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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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Und da verdient der Punkt, von zween Sei-
ten mißverstanden,
einige Erörterung.

Die Religion der alten Welt, die aus
Morgenlande über Aegypten nach Griechen-
land
und Jtalien gekommen, war in allem
Betracht ein verduftetes kraftloses Ding ge-
worden, das wahre Caput mortuum dessen,
was sie gewesen war und seyn sollte. Wenn
man nur die spätere Mythologie der Griechen
und die Puppe von politischer Völkerreli-
gion
bey den Römern betrachtet: so brauchts
keines Worts mehr -- -- Und doch war nun
auch fast "kein ander Principium der Tugend"
in der Welt! Die römische Aufopferung fürs
Vaterland
war von ihrer Höhe gesunken und
lag im Moraste der Schwelgerey und kriege-
rischer Unmenschlichkeit. Griechische Jugend-
ehre
und Freyheitliebe -- wo war sie? Und
der alte ägyptische Geist, wo war er, als Grie-
chen und Römer in ihrem Lande nisteten? Wo-
her nun Ersatz? Philosophie konnte ihn nicht
geben: sie war das ausgeartetste Sophisten-
zeug, Disputirkunst, Trödelkram
von Mey-
nungen ohne Kraft
und Gewißheit, eine
mit alten Lumpen behangene Holzmaschine ohne
Würkung aufs menschliche Herz, geschweige

denn
E 3


Und da verdient der Punkt, von zween Sei-
ten mißverſtanden,
einige Eroͤrterung.

Die Religion der alten Welt, die aus
Morgenlande uͤber Aegypten nach Griechen-
land
und Jtalien gekommen, war in allem
Betracht ein verduftetes kraftloſes Ding ge-
worden, das wahre Caput mortuum deſſen,
was ſie geweſen war und ſeyn ſollte. Wenn
man nur die ſpaͤtere Mythologie der Griechen
und die Puppe von politiſcher Voͤlkerreli-
gion
bey den Roͤmern betrachtet: ſo brauchts
keines Worts mehr — — Und doch war nun
auch faſt „kein ander Principium der Tugend„
in der Welt! Die roͤmiſche Aufopferung fuͤrs
Vaterland
war von ihrer Hoͤhe geſunken und
lag im Moraſte der Schwelgerey und kriege-
riſcher Unmenſchlichkeit. Griechiſche Jugend-
ehre
und Freyheitliebe — wo war ſie? Und
der alte aͤgyptiſche Geiſt, wo war er, als Grie-
chen und Roͤmer in ihrem Lande niſteten? Wo-
her nun Erſatz? Philoſophie konnte ihn nicht
geben: ſie war das ausgeartetſte Sophiſten-
zeug, Diſputirkunſt, Troͤdelkram
von Mey-
nungen ohne Kraft
und Gewißheit, eine
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Wuͤrkung aufs menſchliche Herz, geſchweige

denn
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[69/0073] Und da verdient der Punkt, von zween Sei- ten mißverſtanden, einige Eroͤrterung. Die Religion der alten Welt, die aus Morgenlande uͤber Aegypten nach Griechen- land und Jtalien gekommen, war in allem Betracht ein verduftetes kraftloſes Ding ge- worden, das wahre Caput mortuum deſſen, was ſie geweſen war und ſeyn ſollte. Wenn man nur die ſpaͤtere Mythologie der Griechen und die Puppe von politiſcher Voͤlkerreli- gion bey den Roͤmern betrachtet: ſo brauchts keines Worts mehr — — Und doch war nun auch faſt „kein ander Principium der Tugend„ in der Welt! Die roͤmiſche Aufopferung fuͤrs Vaterland war von ihrer Hoͤhe geſunken und lag im Moraſte der Schwelgerey und kriege- riſcher Unmenſchlichkeit. Griechiſche Jugend- ehre und Freyheitliebe — wo war ſie? Und der alte aͤgyptiſche Geiſt, wo war er, als Grie- chen und Roͤmer in ihrem Lande niſteten? Wo- her nun Erſatz? Philoſophie konnte ihn nicht geben: ſie war das ausgeartetſte Sophiſten- zeug, Diſputirkunſt, Troͤdelkram von Mey- nungen ohne Kraft und Gewißheit, eine mit alten Lumpen behangene Holzmaſchine ohne Wuͤrkung aufs menſchliche Herz, geſchweige denn E 3

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/73>, abgerufen am 21.11.2024.