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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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gossen, jeder Biegung, Senkung, Weiche,
Härte,
wie auf einer Waage zugewogen, in
jeder lebt und beinahe die Gewalt hat, unsre
Seele in die nähmliche sympathetische Stellung
zu versetzen.
Jedes Beugen und Heben
der Brust und des Knies, und wie der Körper
ruht und wie in ihm die Seele sich darstellt, geht
stumm und unbegreiflich in uns hinüber: wir
werden mit der Natur gleichsam verkörpert oder
diese mit uns beseelet. Und daher fühlen wir
auch jede neue Ergänzung doppelt widrig, die,
so schön sie auch seyn mag, wenn sie nicht vom
Ganzen des Einen lebendigen Geistes beseelt wird,
uns mit Recht als ein fremdes Flickwerk vor-
kommt. Nichts muß blos ersehen und als Flä-
che behandelt, sondern vom zarten Finger des in-
nern Sinnes und harmonischen Mitgefühls durch-
tastet seyn, als ob es aus den Händen des Schö-
pfers käme. --

Nichts preisen daher die Zuschriften der
Griechischen Anthologie an den Statuen so sehr,
als diese ganze Haltung, dies Durch- und zu
uns Leben,
das aus ihnen gehet. Jch weiß
nicht, ob es eine Zeichnung oder Schilderei erse-
tze, die nur Schatten auf der Fläche gibt und
vom lebendigen Körper doch auch nur entspringen
muste; aber das weiß ich, daß, je mehr wir alle
Dinge als Schatten, als Gemählde und vorüber-

strei-

goſſen, jeder Biegung, Senkung, Weiche,
Haͤrte,
wie auf einer Waage zugewogen, in
jeder lebt und beinahe die Gewalt hat, unſre
Seele in die naͤhmliche ſympathetiſche Stellung
zu verſetzen.
Jedes Beugen und Heben
der Bruſt und des Knies, und wie der Koͤrper
ruht und wie in ihm die Seele ſich darſtellt, geht
ſtumm und unbegreiflich in uns hinuͤber: wir
werden mit der Natur gleichſam verkoͤrpert oder
dieſe mit uns beſeelet. Und daher fuͤhlen wir
auch jede neue Ergaͤnzung doppelt widrig, die,
ſo ſchoͤn ſie auch ſeyn mag, wenn ſie nicht vom
Ganzen des Einen lebendigen Geiſtes beſeelt wird,
uns mit Recht als ein fremdes Flickwerk vor-
kommt. Nichts muß blos erſehen und als Flaͤ-
che behandelt, ſondern vom zarten Finger des in-
nern Sinnes und harmoniſchen Mitgefuͤhls durch-
taſtet ſeyn, als ob es aus den Haͤnden des Schoͤ-
pfers kaͤme. —

Nichts preiſen daher die Zuſchriften der
Griechiſchen Anthologie an den Statuen ſo ſehr,
als dieſe ganze Haltung, dies Durch- und zu
uns Leben,
das aus ihnen gehet. Jch weiß
nicht, ob es eine Zeichnung oder Schilderei erſe-
tze, die nur Schatten auf der Flaͤche gibt und
vom lebendigen Koͤrper doch auch nur entſpringen
muſte; aber das weiß ich, daß, je mehr wir alle
Dinge als Schatten, als Gemaͤhlde und voruͤber-

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[98/0101] goſſen, jeder Biegung, Senkung, Weiche, Haͤrte, wie auf einer Waage zugewogen, in jeder lebt und beinahe die Gewalt hat, unſre Seele in die naͤhmliche ſympathetiſche Stellung zu verſetzen. Jedes Beugen und Heben der Bruſt und des Knies, und wie der Koͤrper ruht und wie in ihm die Seele ſich darſtellt, geht ſtumm und unbegreiflich in uns hinuͤber: wir werden mit der Natur gleichſam verkoͤrpert oder dieſe mit uns beſeelet. Und daher fuͤhlen wir auch jede neue Ergaͤnzung doppelt widrig, die, ſo ſchoͤn ſie auch ſeyn mag, wenn ſie nicht vom Ganzen des Einen lebendigen Geiſtes beſeelt wird, uns mit Recht als ein fremdes Flickwerk vor- kommt. Nichts muß blos erſehen und als Flaͤ- che behandelt, ſondern vom zarten Finger des in- nern Sinnes und harmoniſchen Mitgefuͤhls durch- taſtet ſeyn, als ob es aus den Haͤnden des Schoͤ- pfers kaͤme. — Nichts preiſen daher die Zuſchriften der Griechiſchen Anthologie an den Statuen ſo ſehr, als dieſe ganze Haltung, dies Durch- und zu uns Leben, das aus ihnen gehet. Jch weiß nicht, ob es eine Zeichnung oder Schilderei erſe- tze, die nur Schatten auf der Flaͤche gibt und vom lebendigen Koͤrper doch auch nur entſpringen muſte; aber das weiß ich, daß, je mehr wir alle Dinge als Schatten, als Gemaͤhlde und voruͤber- ſtrei-

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/101>, abgerufen am 23.11.2024.