[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.was vom ganzen Körper spricht, wenn es sogar Es ist wunderbar, welchen Blick hierinn, wie Statuen
was vom ganzen Koͤrper ſpricht, wenn es ſogar Es iſt wunderbar, welchen Blick hierinn, wie Statuen
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0112" n="109"/> was <hi rendition="#fr">vom ganzen Koͤrper ſpricht,</hi> wenn es ſogar<lb/> dem Gefuͤhl redet. An einzelnen Theilen kann<lb/> man ſich irren, aber die Stimme des <hi rendition="#fr">Allgemei-<lb/> nen</hi> iſt auch hier Gottes Stimme. Sie wapnet<lb/> uns gegen Traum und Deutelei, inſonderheit ge-<lb/> gen das partheiiſche Hangen an <hi rendition="#fr">Einer</hi> Form, an<lb/><hi rendition="#fr">Einem</hi> Zuge, das uns ſo weit wegbringen kann<lb/> von Wahrheit. Das beſcheidene <hi rendition="#fr">Gefuͤhl</hi> ta-<lb/> ſtet langſam, aber unpartheiiſch: es findet viel-<lb/> leicht wenig, aber was da iſt. Es urtheilt nicht,<lb/> bis es <hi rendition="#fr">ganz</hi> erfaßt hat.</p><lb/> <p>Es iſt wunderbar, welchen Blick hierinn, wie<lb/> in Allem, die beiden Geſchlechter gegen einander<lb/> haben, wie tief der Mann das Weib und das<lb/> Weib den Mann kennet. Jedes kann ſeinem<lb/> Geſchlechte Unrecht thun und thut ihm oft, nicht<lb/> eben aus Neid, Unrecht; aber ſein Urtheil uͤber<lb/> das Andre iſt, wo es nicht Leidenſchaft verblendet,<lb/> ſondern Leidenſchaft wapnet, wunderbar ſtrenge.<lb/> Die <hi rendition="#fr">Liebe</hi> holt das wahre Jdeal, den Engel;<lb/><hi rendition="#fr">Haß,</hi> den Teufel aus uns hervor, der in uns<lb/> liegt, und den wir oft ſelbſt nicht zu ſehen oder zu<lb/> finden vermoͤgen. Die Urſache iſt klar. Zum<lb/><hi rendition="#fr">allgemein Menſchlichen Gefuͤhle</hi> kam noch ein<lb/><hi rendition="#fr">Geſchlechtsgefuͤhl</hi> hinzu, das wir ja auch bei<lb/> den erhabenſten Urtheilen uͤber das, <hi rendition="#fr">was Menſch<lb/> iſt,</hi> nicht ganz verlaͤugnen. Der Mann muß im-<lb/> mer, er mag dichten oder regieren, Menſchen oder<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Statuen</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [109/0112]
was vom ganzen Koͤrper ſpricht, wenn es ſogar
dem Gefuͤhl redet. An einzelnen Theilen kann
man ſich irren, aber die Stimme des Allgemei-
nen iſt auch hier Gottes Stimme. Sie wapnet
uns gegen Traum und Deutelei, inſonderheit ge-
gen das partheiiſche Hangen an Einer Form, an
Einem Zuge, das uns ſo weit wegbringen kann
von Wahrheit. Das beſcheidene Gefuͤhl ta-
ſtet langſam, aber unpartheiiſch: es findet viel-
leicht wenig, aber was da iſt. Es urtheilt nicht,
bis es ganz erfaßt hat.
Es iſt wunderbar, welchen Blick hierinn, wie
in Allem, die beiden Geſchlechter gegen einander
haben, wie tief der Mann das Weib und das
Weib den Mann kennet. Jedes kann ſeinem
Geſchlechte Unrecht thun und thut ihm oft, nicht
eben aus Neid, Unrecht; aber ſein Urtheil uͤber
das Andre iſt, wo es nicht Leidenſchaft verblendet,
ſondern Leidenſchaft wapnet, wunderbar ſtrenge.
Die Liebe holt das wahre Jdeal, den Engel;
Haß, den Teufel aus uns hervor, der in uns
liegt, und den wir oft ſelbſt nicht zu ſehen oder zu
finden vermoͤgen. Die Urſache iſt klar. Zum
allgemein Menſchlichen Gefuͤhle kam noch ein
Geſchlechtsgefuͤhl hinzu, das wir ja auch bei
den erhabenſten Urtheilen uͤber das, was Menſch
iſt, nicht ganz verlaͤugnen. Der Mann muß im-
mer, er mag dichten oder regieren, Menſchen oder
Statuen
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