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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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den Regen erwartet, nicht wie beide von beiden
die Frucht zeigen, bilden Linien des Reizes. Für
ihr theuerstes Bedürfniß sparte die Natur also
ihre reichsten Schätze auf, und wie jener heilige
Schriftsteller sagt, die Glieder der Unehre
schmücket man am meisten.
Jch habe noch
Ein Wort über das, was Stand oder Fall des
Körpers ist, zu sagen. Allen steht der Kopf auf
Schultern; aber nicht allen steht er darauf gleich.
Bei allen ist im Mittelpunkt der Schwerpunkt,
aber gewiß fällt bei allen das Gliedergebäu nicht
gleich auf denselben. Wir stehn alle auf den
Füßen; großer Unterschied aber, wie der Körper
auf sie fällt, auf ihnen ruhet, wie sich der Fuß-
tritt drückt. Dieser ganze Stand und Fall des
Körpers ist ungemein bedeutend. Er zeigt ganz
natürlich, die Glieder, die hervortreten oder sich
verbergen, die wie von Natur und unwillkühr-
lich gleichsam zuerst sprechen, oder die da schwei-
gen, als wären sie gar nicht. Hiernach bestimmt
sich der Gang des Menschen, der für Physiogno-
misten und Antiphysiognomisten so karakteristisch
ist: hiernach, wie ein Mensch auftritt und sich
zeigt, oder sitzt und ruhet. An Göttern und
Faunen, Helden und Satyren, bewiesen auch
hierinn die alten Künstler unendlich feine Cha-
rakterkenntniß,
wie weitläuftig gezeigt werden
könnte. Ueberhaupt ist nichts untrüglicher, als

was

den Regen erwartet, nicht wie beide von beiden
die Frucht zeigen, bilden Linien des Reizes. Fuͤr
ihr theuerſtes Beduͤrfniß ſparte die Natur alſo
ihre reichſten Schaͤtze auf, und wie jener heilige
Schriftſteller ſagt, die Glieder der Unehre
ſchmuͤcket man am meiſten.
Jch habe noch
Ein Wort uͤber das, was Stand oder Fall des
Koͤrpers iſt, zu ſagen. Allen ſteht der Kopf auf
Schultern; aber nicht allen ſteht er darauf gleich.
Bei allen iſt im Mittelpunkt der Schwerpunkt,
aber gewiß faͤllt bei allen das Gliedergebaͤu nicht
gleich auf denſelben. Wir ſtehn alle auf den
Fuͤßen; großer Unterſchied aber, wie der Koͤrper
auf ſie faͤllt, auf ihnen ruhet, wie ſich der Fuß-
tritt druͤckt. Dieſer ganze Stand und Fall des
Koͤrpers iſt ungemein bedeutend. Er zeigt ganz
natuͤrlich, die Glieder, die hervortreten oder ſich
verbergen, die wie von Natur und unwillkuͤhr-
lich gleichſam zuerſt ſprechen, oder die da ſchwei-
gen, als waͤren ſie gar nicht. Hiernach beſtimmt
ſich der Gang des Menſchen, der fuͤr Phyſiogno-
miſten und Antiphyſiognomiſten ſo karakteriſtiſch
iſt: hiernach, wie ein Menſch auftritt und ſich
zeigt, oder ſitzt und ruhet. An Goͤttern und
Faunen, Helden und Satyren, bewieſen auch
hierinn die alten Kuͤnſtler unendlich feine Cha-
rakterkenntniß,
wie weitlaͤuftig gezeigt werden
koͤnnte. Ueberhaupt iſt nichts untruͤglicher, als

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[108/0111] den Regen erwartet, nicht wie beide von beiden die Frucht zeigen, bilden Linien des Reizes. Fuͤr ihr theuerſtes Beduͤrfniß ſparte die Natur alſo ihre reichſten Schaͤtze auf, und wie jener heilige Schriftſteller ſagt, die Glieder der Unehre ſchmuͤcket man am meiſten. Jch habe noch Ein Wort uͤber das, was Stand oder Fall des Koͤrpers iſt, zu ſagen. Allen ſteht der Kopf auf Schultern; aber nicht allen ſteht er darauf gleich. Bei allen iſt im Mittelpunkt der Schwerpunkt, aber gewiß faͤllt bei allen das Gliedergebaͤu nicht gleich auf denſelben. Wir ſtehn alle auf den Fuͤßen; großer Unterſchied aber, wie der Koͤrper auf ſie faͤllt, auf ihnen ruhet, wie ſich der Fuß- tritt druͤckt. Dieſer ganze Stand und Fall des Koͤrpers iſt ungemein bedeutend. Er zeigt ganz natuͤrlich, die Glieder, die hervortreten oder ſich verbergen, die wie von Natur und unwillkuͤhr- lich gleichſam zuerſt ſprechen, oder die da ſchwei- gen, als waͤren ſie gar nicht. Hiernach beſtimmt ſich der Gang des Menſchen, der fuͤr Phyſiogno- miſten und Antiphyſiognomiſten ſo karakteriſtiſch iſt: hiernach, wie ein Menſch auftritt und ſich zeigt, oder ſitzt und ruhet. An Goͤttern und Faunen, Helden und Satyren, bewieſen auch hierinn die alten Kuͤnſtler unendlich feine Cha- rakterkenntniß, wie weitlaͤuftig gezeigt werden koͤnnte. Ueberhaupt iſt nichts untruͤglicher, als was

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/111>, abgerufen am 23.11.2024.