Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

wurden, und von Jugend auf Eine der andern die
Arbeit tragen half oder sie gar allein übernahm:
so geschahe es auch hier, und Schwester verfehlte
die Schwester. Sie hatten sich sonst auf der
Erde versucht; nun ist der Fall im Wasser, einem
andern Element der Stralenbrechung, wo sie sich
nicht gegen einander geübt hatten. Ein Wasser-
mann würds besser getroffen haben.

Abermals ein Beispiel der vorigen Geschichte.
"Cheseldens Blinder sah am Gemählde nur ein
"Farbenbrett; da sich die Figuren lostrennten
"und er sie erkannte, griff er darnach als nach
Körpern". Es scheint sonderbar, ist aber sehr
natürlich, und der Fall geschieht öfters. Ein Kind,
ein rohes Auge sieht am Gemählde das Farben-
brett öfter, als man denket: es kann sich, so lange
die Figur ihm am Brett klebt, jenen Schatten,
diesen Streif nicht erklären; es gaffet. Nun aber
fangen die Figuren an, sich zu beleben; ists nicht,
als ob sie hervorgingen und würden Gestalten?
Man sieht sie gegenwärtig, man greift um sie,
der Traum wird Wahrheit. Die höchste Liebe
und Entzückung macht also gerade das, was dort
die Unwissenheit that, und eben das ist der Triumph
des Mahlers! Durch seinen Zaubertrug sollte
Gesicht Gefühl werden, so wie bei ihm das Gefühl
Gesicht ward.

3. Jch

wurden, und von Jugend auf Eine der andern die
Arbeit tragen half oder ſie gar allein uͤbernahm:
ſo geſchahe es auch hier, und Schweſter verfehlte
die Schweſter. Sie hatten ſich ſonſt auf der
Erde verſucht; nun iſt der Fall im Waſſer, einem
andern Element der Stralenbrechung, wo ſie ſich
nicht gegen einander geuͤbt hatten. Ein Waſſer-
mann wuͤrds beſſer getroffen haben.

Abermals ein Beiſpiel der vorigen Geſchichte.
„Cheſeldens Blinder ſah am Gemaͤhlde nur ein
„Farbenbrett; da ſich die Figuren lostrennten
„und er ſie erkannte, griff er darnach als nach
Koͤrpern„. Es ſcheint ſonderbar, iſt aber ſehr
natuͤrlich, und der Fall geſchieht oͤfters. Ein Kind,
ein rohes Auge ſieht am Gemaͤhlde das Farben-
brett oͤfter, als man denket: es kann ſich, ſo lange
die Figur ihm am Brett klebt, jenen Schatten,
dieſen Streif nicht erklaͤren; es gaffet. Nun aber
fangen die Figuren an, ſich zu beleben; iſts nicht,
als ob ſie hervorgingen und wuͤrden Geſtalten?
Man ſieht ſie gegenwaͤrtig, man greift um ſie,
der Traum wird Wahrheit. Die hoͤchſte Liebe
und Entzuͤckung macht alſo gerade das, was dort
die Unwiſſenheit that, und eben das iſt der Triumph
des Mahlers! Durch ſeinen Zaubertrug ſollte
Geſicht Gefuͤhl werden, ſo wie bei ihm das Gefuͤhl
Geſicht ward.

3. Jch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0018" n="15"/>
wurden, und von Jugend auf Eine der andern die<lb/>
Arbeit tragen half oder &#x017F;ie gar allein u&#x0364;bernahm:<lb/>
&#x017F;o ge&#x017F;chahe es auch hier, und Schwe&#x017F;ter verfehlte<lb/>
die Schwe&#x017F;ter. Sie hatten &#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t auf der<lb/>
Erde ver&#x017F;ucht; nun i&#x017F;t der Fall im Wa&#x017F;&#x017F;er, einem<lb/>
andern Element der Stralenbrechung, wo &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
nicht gegen einander geu&#x0364;bt hatten. Ein Wa&#x017F;&#x017F;er-<lb/>
mann wu&#x0364;rds be&#x017F;&#x017F;er getroffen haben.</p><lb/>
          <p>Abermals ein Bei&#x017F;piel der vorigen Ge&#x017F;chichte.<lb/>
&#x201E;Che&#x017F;eldens Blinder &#x017F;ah am Gema&#x0364;hlde nur ein<lb/>
&#x201E;Farbenbrett; da &#x017F;ich die Figuren lostrennten<lb/>
&#x201E;und er &#x017F;ie erkannte, griff er darnach als nach<lb/>
Ko&#x0364;rpern&#x201E;. Es &#x017F;cheint &#x017F;onderbar, i&#x017F;t aber &#x017F;ehr<lb/>
natu&#x0364;rlich, und der Fall ge&#x017F;chieht o&#x0364;fters. Ein Kind,<lb/>
ein rohes Auge &#x017F;ieht am Gema&#x0364;hlde das Farben-<lb/>
brett o&#x0364;fter, als man denket: es kann &#x017F;ich, &#x017F;o lange<lb/>
die Figur ihm am Brett klebt, jenen Schatten,<lb/>
die&#x017F;en Streif nicht erkla&#x0364;ren; es gaffet. Nun aber<lb/>
fangen die Figuren an, &#x017F;ich zu beleben; i&#x017F;ts nicht,<lb/>
als ob &#x017F;ie <hi rendition="#fr">hervorgingen</hi> und wu&#x0364;rden <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;talten</hi>?<lb/>
Man &#x017F;ieht &#x017F;ie <hi rendition="#fr">gegenwa&#x0364;rtig</hi>, man <hi rendition="#fr">greift um &#x017F;ie</hi>,<lb/>
der Traum wird <hi rendition="#fr">Wahrheit</hi>. Die ho&#x0364;ch&#x017F;te Liebe<lb/>
und Entzu&#x0364;ckung macht al&#x017F;o gerade das, was dort<lb/>
die Unwi&#x017F;&#x017F;enheit that, und eben das i&#x017F;t der Triumph<lb/>
des Mahlers! Durch &#x017F;einen Zaubertrug &#x017F;ollte<lb/>
Ge&#x017F;icht Gefu&#x0364;hl werden, &#x017F;o wie bei ihm das Gefu&#x0364;hl<lb/>
Ge&#x017F;icht ward.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">3. Jch</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0018] wurden, und von Jugend auf Eine der andern die Arbeit tragen half oder ſie gar allein uͤbernahm: ſo geſchahe es auch hier, und Schweſter verfehlte die Schweſter. Sie hatten ſich ſonſt auf der Erde verſucht; nun iſt der Fall im Waſſer, einem andern Element der Stralenbrechung, wo ſie ſich nicht gegen einander geuͤbt hatten. Ein Waſſer- mann wuͤrds beſſer getroffen haben. Abermals ein Beiſpiel der vorigen Geſchichte. „Cheſeldens Blinder ſah am Gemaͤhlde nur ein „Farbenbrett; da ſich die Figuren lostrennten „und er ſie erkannte, griff er darnach als nach Koͤrpern„. Es ſcheint ſonderbar, iſt aber ſehr natuͤrlich, und der Fall geſchieht oͤfters. Ein Kind, ein rohes Auge ſieht am Gemaͤhlde das Farben- brett oͤfter, als man denket: es kann ſich, ſo lange die Figur ihm am Brett klebt, jenen Schatten, dieſen Streif nicht erklaͤren; es gaffet. Nun aber fangen die Figuren an, ſich zu beleben; iſts nicht, als ob ſie hervorgingen und wuͤrden Geſtalten? Man ſieht ſie gegenwaͤrtig, man greift um ſie, der Traum wird Wahrheit. Die hoͤchſte Liebe und Entzuͤckung macht alſo gerade das, was dort die Unwiſſenheit that, und eben das iſt der Triumph des Mahlers! Durch ſeinen Zaubertrug ſollte Geſicht Gefuͤhl werden, ſo wie bei ihm das Gefuͤhl Geſicht ward. 3. Jch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/18
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/18>, abgerufen am 03.12.2024.