[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.griff den Sinn des Gesichts für seinen Ursprung es B 2
griff den Sinn des Geſichts fuͤr ſeinen Urſprung es B 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0022" n="19"/> griff den Sinn des Geſichts fuͤr ſeinen Urſprung<lb/> und Oberrichter erkenne? das laͤßt ſich nicht<lb/> blos bezweifeln, ſondern gerade verneinen. Laſſet<lb/> ein Geſchoͤpf ganz Auge, ja einen Argus mit hun-<lb/> dert Augen hundert Jahr eine Bildſaͤule beſehen<lb/> und von allen Seiten betrachten: iſt er nicht ein<lb/> Geſchoͤpf, das Hand hat, das einſt taſten und<lb/> wenigſtens ſich ſelbſt betaſten konnte; ein Vogel-<lb/> auge, ganz Schnabel, ganz Blick, ganz Fit-<lb/> tig und Klaue, wird nie von dieſem Dinge als<lb/> Vogelanſicht haben. Raum, Winkel, Form,<lb/> Rundung lerne ich als ſolche in leibhafter Wahr-<lb/> heit nicht durchs <hi rendition="#fr">Geſicht</hi> erkennen; geſchweige das<lb/> Weſen dieſer Kunſt, <hi rendition="#fr">ſchoͤne Form, ſchoͤne</hi> Bil-<lb/> dung, die nicht Farbe, nicht Spiel der Propor-<lb/> tion, der Symmetrie, des Lichtes und Schattens,<lb/> ſondern <hi rendition="#fr">dargeſtellte, taſtbare Wahrheit</hi> iſt.<lb/> Die ſchoͤne Linie, die hier immer ihre Bahn ver-<lb/> aͤndert, ſie, die nie gewaltſam unterbrochen, nie<lb/> widrig vertrieben ſich mit Pracht und Schoͤne um<lb/> den Koͤrper waͤlzet, und nimmer ruhend und im-<lb/> mer fortſchwebend in ihm den Guß, die Fuͤlle,<lb/> das ſanft verblaſene entzuͤckende <hi rendition="#fr">Leibhafte</hi> bildet,<lb/> das nie von Flaͤche, nie von Ecke oder Winkel<lb/> weiß; dieſe Linie kann ſo wenig Geſichtsflaͤche, ſo<lb/> wenig Tafel und Kupferſtich werden, daß gerade<lb/> mit dieſen Alles an ihr hin iſt. Das Geſicht zer-<lb/> ſtoͤrt die ſchoͤne Bildſaͤule, ſtatt daß es ſie ſchaffe:<lb/> <fw place="bottom" type="sig">B 2</fw><fw place="bottom" type="catch">es</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0022]
griff den Sinn des Geſichts fuͤr ſeinen Urſprung
und Oberrichter erkenne? das laͤßt ſich nicht
blos bezweifeln, ſondern gerade verneinen. Laſſet
ein Geſchoͤpf ganz Auge, ja einen Argus mit hun-
dert Augen hundert Jahr eine Bildſaͤule beſehen
und von allen Seiten betrachten: iſt er nicht ein
Geſchoͤpf, das Hand hat, das einſt taſten und
wenigſtens ſich ſelbſt betaſten konnte; ein Vogel-
auge, ganz Schnabel, ganz Blick, ganz Fit-
tig und Klaue, wird nie von dieſem Dinge als
Vogelanſicht haben. Raum, Winkel, Form,
Rundung lerne ich als ſolche in leibhafter Wahr-
heit nicht durchs Geſicht erkennen; geſchweige das
Weſen dieſer Kunſt, ſchoͤne Form, ſchoͤne Bil-
dung, die nicht Farbe, nicht Spiel der Propor-
tion, der Symmetrie, des Lichtes und Schattens,
ſondern dargeſtellte, taſtbare Wahrheit iſt.
Die ſchoͤne Linie, die hier immer ihre Bahn ver-
aͤndert, ſie, die nie gewaltſam unterbrochen, nie
widrig vertrieben ſich mit Pracht und Schoͤne um
den Koͤrper waͤlzet, und nimmer ruhend und im-
mer fortſchwebend in ihm den Guß, die Fuͤlle,
das ſanft verblaſene entzuͤckende Leibhafte bildet,
das nie von Flaͤche, nie von Ecke oder Winkel
weiß; dieſe Linie kann ſo wenig Geſichtsflaͤche, ſo
wenig Tafel und Kupferſtich werden, daß gerade
mit dieſen Alles an ihr hin iſt. Das Geſicht zer-
ſtoͤrt die ſchoͤne Bildſaͤule, ſtatt daß es ſie ſchaffe:
es
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