Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

gleitet auf der Oberfläche mit Bild und Farbe um-
her; überdem hat er so Vieles und so Zusammen-
gesetztes vor sich, daß man mit ihm wohl nie auf
den Grund kommen wird. Er borgt von andern
und baut auf andre Sinne: ihre Hülfsbegriffe
müssen ihm Grundlage feyn, die er nur mit Licht
umglänzet. Dringe ich nun nicht in diese Be-
griffe andrer Sinne, suche ich nicht Gestalt und
Form, statt zu ersehen, ursprünglich zu erfassen,
so schwebe ich mit meiner Theorie des Schönen
und Wahren aus dem Gesichte ewig in der Luft,
und schwimme mit Seifenblasen. Eine Theorie
schöner Formen aus Gesetzen der Optik ist so viel
als eine Theorie der Musik aus dem Geschmacke.
"Die rothe Farbe, sagte jener Blinde, nun be-
"greife ich sie, sie ist wie der Schall einer Trom-
"pete"; und gerade das sind viele Abhandlungen
der Aesthetik aus andern in andre Sinne, daß man
zuletzt nicht weiß, wo oder wie man dran ist?

Man klassificirt die schönen Künste ordent-
lich unter zwei Hauptsinne, Gesicht und Gehör;
und dem ersten Hauptmanne gibt man alles, was
man will, aber er nicht fodert, Flächen, For-
men, Farben, Gestalten, Bildsäulen, Bret-
ter, Sprünge, Kleider
. Daß man Bildsäu-
len sehen kann, daran hat niemand gezweifelt;
ob aber aus dem Gesicht sich ursprünglich bestim-
men lasse, was schöne Form ist? ob dieser Be-

griff

gleitet auf der Oberflaͤche mit Bild und Farbe um-
her; uͤberdem hat er ſo Vieles und ſo Zuſammen-
geſetztes vor ſich, daß man mit ihm wohl nie auf
den Grund kommen wird. Er borgt von andern
und baut auf andre Sinne: ihre Huͤlfsbegriffe
muͤſſen ihm Grundlage feyn, die er nur mit Licht
umglaͤnzet. Dringe ich nun nicht in dieſe Be-
griffe andrer Sinne, ſuche ich nicht Geſtalt und
Form, ſtatt zu erſehen, urſpruͤnglich zu erfaſſen,
ſo ſchwebe ich mit meiner Theorie des Schoͤnen
und Wahren aus dem Geſichte ewig in der Luft,
und ſchwimme mit Seifenblaſen. Eine Theorie
ſchoͤner Formen aus Geſetzen der Optik iſt ſo viel
als eine Theorie der Muſik aus dem Geſchmacke.
„Die rothe Farbe, ſagte jener Blinde, nun be-
„greife ich ſie, ſie iſt wie der Schall einer Trom-
„pete„; und gerade das ſind viele Abhandlungen
der Aeſthetik aus andern in andre Sinne, daß man
zuletzt nicht weiß, wo oder wie man dran iſt?

Man klaſſificirt die ſchoͤnen Kuͤnſte ordent-
lich unter zwei Hauptſinne, Geſicht und Gehoͤr;
und dem erſten Hauptmanne gibt man alles, was
man will, aber er nicht fodert, Flaͤchen, For-
men, Farben, Geſtalten, Bildſaͤulen, Bret-
ter, Spruͤnge, Kleider
. Daß man Bildſaͤu-
len ſehen kann, daran hat niemand gezweifelt;
ob aber aus dem Geſicht ſich urſpruͤnglich beſtim-
men laſſe, was ſchoͤne Form iſt? ob dieſer Be-

griff
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0021" n="18"/>
gleitet auf der Oberfla&#x0364;che mit Bild und Farbe um-<lb/>
her; u&#x0364;berdem hat er &#x017F;o Vieles und &#x017F;o Zu&#x017F;ammen-<lb/>
ge&#x017F;etztes vor &#x017F;ich, daß man mit ihm wohl nie auf<lb/>
den Grund kommen wird. Er borgt von andern<lb/>
und baut auf andre Sinne: ihre <hi rendition="#fr">Hu&#x0364;lfsbegriffe</hi><lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en ihm <hi rendition="#fr">Grundlage</hi> feyn, die er nur mit Licht<lb/>
umgla&#x0364;nzet. Dringe ich nun nicht in die&#x017F;e Be-<lb/>
griffe andrer Sinne, &#x017F;uche ich nicht Ge&#x017F;talt und<lb/>
Form, &#x017F;tatt zu <hi rendition="#fr">er&#x017F;ehen</hi>, ur&#x017F;pru&#x0364;nglich zu erfa&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chwebe ich mit meiner Theorie des Scho&#x0364;nen<lb/>
und Wahren aus dem Ge&#x017F;ichte ewig in der Luft,<lb/>
und &#x017F;chwimme mit Seifenbla&#x017F;en. Eine Theorie<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ner <hi rendition="#fr">Formen</hi> aus Ge&#x017F;etzen der <hi rendition="#fr">Optik</hi> i&#x017F;t &#x017F;o viel<lb/>
als eine Theorie der <hi rendition="#fr">Mu&#x017F;ik</hi> aus dem <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;chmacke</hi>.<lb/>
&#x201E;Die rothe Farbe, &#x017F;agte jener Blinde, nun be-<lb/>
&#x201E;greife ich &#x017F;ie, &#x017F;ie i&#x017F;t wie der Schall einer Trom-<lb/>
&#x201E;pete&#x201E;; und gerade das &#x017F;ind viele Abhandlungen<lb/>
der Ae&#x017F;thetik aus andern in andre Sinne, daß man<lb/>
zuletzt nicht weiß, wo oder wie man dran i&#x017F;t?</p><lb/>
          <p>Man kla&#x017F;&#x017F;ificirt die &#x017F;cho&#x0364;nen Ku&#x0364;n&#x017F;te ordent-<lb/>
lich unter zwei Haupt&#x017F;inne, <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;icht</hi> und <hi rendition="#fr">Geho&#x0364;r</hi>;<lb/>
und dem er&#x017F;ten Hauptmanne gibt man alles, was<lb/>
man will, aber er nicht fodert, <hi rendition="#fr">Fla&#x0364;chen, For-<lb/>
men, Farben, Ge&#x017F;talten, Bild&#x017F;a&#x0364;ulen, Bret-<lb/>
ter, Spru&#x0364;nge, Kleider</hi>. Daß man Bild&#x017F;a&#x0364;u-<lb/>
len &#x017F;ehen kann, daran hat niemand gezweifelt;<lb/>
ob aber aus dem Ge&#x017F;icht &#x017F;ich ur&#x017F;pru&#x0364;nglich be&#x017F;tim-<lb/>
men la&#x017F;&#x017F;e, was &#x017F;cho&#x0364;ne Form i&#x017F;t? ob die&#x017F;er Be-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">griff</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0021] gleitet auf der Oberflaͤche mit Bild und Farbe um- her; uͤberdem hat er ſo Vieles und ſo Zuſammen- geſetztes vor ſich, daß man mit ihm wohl nie auf den Grund kommen wird. Er borgt von andern und baut auf andre Sinne: ihre Huͤlfsbegriffe muͤſſen ihm Grundlage feyn, die er nur mit Licht umglaͤnzet. Dringe ich nun nicht in dieſe Be- griffe andrer Sinne, ſuche ich nicht Geſtalt und Form, ſtatt zu erſehen, urſpruͤnglich zu erfaſſen, ſo ſchwebe ich mit meiner Theorie des Schoͤnen und Wahren aus dem Geſichte ewig in der Luft, und ſchwimme mit Seifenblaſen. Eine Theorie ſchoͤner Formen aus Geſetzen der Optik iſt ſo viel als eine Theorie der Muſik aus dem Geſchmacke. „Die rothe Farbe, ſagte jener Blinde, nun be- „greife ich ſie, ſie iſt wie der Schall einer Trom- „pete„; und gerade das ſind viele Abhandlungen der Aeſthetik aus andern in andre Sinne, daß man zuletzt nicht weiß, wo oder wie man dran iſt? Man klaſſificirt die ſchoͤnen Kuͤnſte ordent- lich unter zwei Hauptſinne, Geſicht und Gehoͤr; und dem erſten Hauptmanne gibt man alles, was man will, aber er nicht fodert, Flaͤchen, For- men, Farben, Geſtalten, Bildſaͤulen, Bret- ter, Spruͤnge, Kleider. Daß man Bildſaͤu- len ſehen kann, daran hat niemand gezweifelt; ob aber aus dem Geſicht ſich urſpruͤnglich beſtim- men laſſe, was ſchoͤne Form iſt? ob dieſer Be- griff

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/21
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/21>, abgerufen am 23.11.2024.