Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

stern oder Halbschwestern, sondern meistens als
ein doppelt Eins betrachtet und keinen Plunder
an der Einen gefunden haben, der nicht auch der
andern gebühre. Daher nun jene erbärmliche
Kritiken, jene armselige, verbietende und ver-
engernde
Kunstregeln, jenes bittersüße Geschwätz
vom allgemeinen Schönen, woran sich der Jün-
ger verdirbt, das dem Meister ekelt und das doch
der kennerische Pöbel als Weisheitssprüche im
Munde führet. Endlich kam ich auf meinen
Begriff, der mir so wahr, der Natur unsrer
Sinne, beider Künste und hundert sonderbaren
Erfahrungen so gemäß schien, daß er, als der
eigentliche subjektive Grenzstein, beide Künste
und ihre Eindrücke und Regeln auf die lindeste
Weise scheidet. Jch gewann einen Punkt, zu
sehen, was jeder Kunst eigen oder fremde, Macht
oder Bedürfniß, Traum oder Wahrheit sei, und
es war, als ob mir ein Sinn würde, die Natur
des Schönen da furchtsam von ferne zu ahnden,
wo -- doch ich plaudre zu frühe und zu viel.
Hier ist der nackte Umriß, wie ich glaube, daß
die Künste des Schönen sich zu einander ver-
halten:

Einen Sinn haben wir, der Theile außer sich
neben einander, einen andern, der sie nach ein-
ander
, einen dritten, der sie in einander erfasset.
Gesicht, Gehör und Gefühl.

Theile

ſtern oder Halbſchweſtern, ſondern meiſtens als
ein doppelt Eins betrachtet und keinen Plunder
an der Einen gefunden haben, der nicht auch der
andern gebuͤhre. Daher nun jene erbaͤrmliche
Kritiken, jene armſelige, verbietende und ver-
engernde
Kunſtregeln, jenes bitterſuͤße Geſchwaͤtz
vom allgemeinen Schoͤnen, woran ſich der Juͤn-
ger verdirbt, das dem Meiſter ekelt und das doch
der kenneriſche Poͤbel als Weisheitsſpruͤche im
Munde fuͤhret. Endlich kam ich auf meinen
Begriff, der mir ſo wahr, der Natur unſrer
Sinne, beider Kuͤnſte und hundert ſonderbaren
Erfahrungen ſo gemaͤß ſchien, daß er, als der
eigentliche ſubjektive Grenzſtein, beide Kuͤnſte
und ihre Eindruͤcke und Regeln auf die lindeſte
Weiſe ſcheidet. Jch gewann einen Punkt, zu
ſehen, was jeder Kunſt eigen oder fremde, Macht
oder Beduͤrfniß, Traum oder Wahrheit ſei, und
es war, als ob mir ein Sinn wuͤrde, die Natur
des Schoͤnen da furchtſam von ferne zu ahnden,
wo — doch ich plaudre zu fruͤhe und zu viel.
Hier iſt der nackte Umriß, wie ich glaube, daß
die Kuͤnſte des Schoͤnen ſich zu einander ver-
halten:

Einen Sinn haben wir, der Theile außer ſich
neben einander, einen andern, der ſie nach ein-
ander
, einen dritten, der ſie in einander erfaſſet.
Geſicht, Gehoͤr und Gefuͤhl.

Theile
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0027" n="24"/>
&#x017F;tern oder Halb&#x017F;chwe&#x017F;tern, &#x017F;ondern mei&#x017F;tens als<lb/>
ein <hi rendition="#fr">doppelt Eins</hi> betrachtet und keinen Plunder<lb/>
an der Einen gefunden haben, der nicht auch der<lb/>
andern gebu&#x0364;hre. Daher nun jene erba&#x0364;rmliche<lb/>
Kritiken, jene arm&#x017F;elige, <hi rendition="#fr">verbietende</hi> und <hi rendition="#fr">ver-<lb/>
engernde</hi> Kun&#x017F;tregeln, jenes bitter&#x017F;u&#x0364;ße Ge&#x017F;chwa&#x0364;tz<lb/>
vom <hi rendition="#fr">allgemeinen</hi> Scho&#x0364;nen, woran &#x017F;ich der Ju&#x0364;n-<lb/>
ger verdirbt, das dem Mei&#x017F;ter ekelt und das doch<lb/>
der kenneri&#x017F;che Po&#x0364;bel als Weisheits&#x017F;pru&#x0364;che im<lb/>
Munde fu&#x0364;hret. Endlich kam ich auf meinen<lb/>
Begriff, der mir &#x017F;o wahr, der Natur un&#x017F;rer<lb/>
Sinne, beider Ku&#x0364;n&#x017F;te und hundert &#x017F;onderbaren<lb/>
Erfahrungen &#x017F;o gema&#x0364;ß &#x017F;chien, daß er, als der<lb/>
eigentliche <hi rendition="#fr">&#x017F;ubjektive Grenz&#x017F;tein</hi>, beide <hi rendition="#fr">Ku&#x0364;n&#x017F;te</hi><lb/>
und ihre <hi rendition="#fr">Eindru&#x0364;cke</hi> und <hi rendition="#fr">Regeln</hi> auf die linde&#x017F;te<lb/>
Wei&#x017F;e &#x017F;cheidet. Jch gewann einen Punkt, zu<lb/>
&#x017F;ehen, was jeder Kun&#x017F;t eigen oder fremde, Macht<lb/>
oder Bedu&#x0364;rfniß, Traum oder Wahrheit &#x017F;ei, und<lb/>
es war, als ob mir ein <hi rendition="#fr">Sinn</hi> wu&#x0364;rde, die Natur<lb/>
des Scho&#x0364;nen da furcht&#x017F;am von ferne zu ahnden,<lb/>
wo &#x2014; doch ich plaudre zu fru&#x0364;he und zu viel.<lb/>
Hier i&#x017F;t der nackte Umriß, wie ich glaube, daß<lb/>
die <hi rendition="#fr">Ku&#x0364;n&#x017F;te des Scho&#x0364;nen</hi> &#x017F;ich zu einander ver-<lb/>
halten:</p><lb/>
          <p>Einen Sinn haben wir, der Theile <hi rendition="#fr">außer</hi> &#x017F;ich<lb/><hi rendition="#fr">neben</hi> einander, einen andern, der &#x017F;ie <hi rendition="#fr">nach ein-<lb/>
ander</hi>, einen dritten, der &#x017F;ie <hi rendition="#fr">in einander</hi> erfa&#x017F;&#x017F;et.<lb/><hi rendition="#fr">Ge&#x017F;icht, Geho&#x0364;r</hi> und <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl</hi>.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Theile</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[24/0027] ſtern oder Halbſchweſtern, ſondern meiſtens als ein doppelt Eins betrachtet und keinen Plunder an der Einen gefunden haben, der nicht auch der andern gebuͤhre. Daher nun jene erbaͤrmliche Kritiken, jene armſelige, verbietende und ver- engernde Kunſtregeln, jenes bitterſuͤße Geſchwaͤtz vom allgemeinen Schoͤnen, woran ſich der Juͤn- ger verdirbt, das dem Meiſter ekelt und das doch der kenneriſche Poͤbel als Weisheitsſpruͤche im Munde fuͤhret. Endlich kam ich auf meinen Begriff, der mir ſo wahr, der Natur unſrer Sinne, beider Kuͤnſte und hundert ſonderbaren Erfahrungen ſo gemaͤß ſchien, daß er, als der eigentliche ſubjektive Grenzſtein, beide Kuͤnſte und ihre Eindruͤcke und Regeln auf die lindeſte Weiſe ſcheidet. Jch gewann einen Punkt, zu ſehen, was jeder Kunſt eigen oder fremde, Macht oder Beduͤrfniß, Traum oder Wahrheit ſei, und es war, als ob mir ein Sinn wuͤrde, die Natur des Schoͤnen da furchtſam von ferne zu ahnden, wo — doch ich plaudre zu fruͤhe und zu viel. Hier iſt der nackte Umriß, wie ich glaube, daß die Kuͤnſte des Schoͤnen ſich zu einander ver- halten: Einen Sinn haben wir, der Theile außer ſich neben einander, einen andern, der ſie nach ein- ander, einen dritten, der ſie in einander erfaſſet. Geſicht, Gehoͤr und Gefuͤhl. Theile

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/27
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/27>, abgerufen am 03.12.2024.