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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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Man hat ebenmäßig gefraget: "ob Myrons
"Kuh mehr gefallen würde, wenn man sie mit
Haaren bekleidete"? und es scharfsinnig vernei-
net, weil sie sodann einer Kuh zu ähnlich wäre.
Kuh einer Kuh zu ähnlich? das ist Kuh, aber
zu sehr Kuh? ich antworte gerade hin, weil sie
sodann für die Kunst gar nicht mehr Kuh, son-
dern ein ausgestopfter Haarbalg wäre. Schleuß
das Auge und fühle: da ist weder Form noch Ge-
stalt mehr, geschweige schöne Form, schöne Ge-
stalt. Wenn dort der Hirte, Myrons eherne
Kuh wegtreiben wollte, so wird diese weder
Hirte noch Künstler berühren, denn sie ist "einer
"Kuh gar zu ähnlich und doch nicht Kuh", das
ist, Popanz.

Viel feinere Sachen, als Tünche und Kuh-
haut müssen von der Statue wegbleiben, weil sie
dem Gefühl widerstehen, weil sie dem tasten-
den Sinn
keine ununterbrochene schöne Form
sind. Diese Adern an Händen, diese Knorpel
an Fingern, diese Knöchel an Knien müssen so
geschont, und in Fülle des Ganzen verkleidet
werden; oder die Adern sind kriechende Würme,
die Knorpel aufliegende Gewächse dem stillen dun-
keltastenden Gefühl. Nicht ganze Fülle Eines
Körpers mehr, sondern Abtrennungen, losge-
löste Stücke des Körpers, die seine Zerstörung
weissagen, und sich eben daher schon selbst ent-

fernten.

Man hat ebenmaͤßig gefraget: „ob Myrons
„Kuh mehr gefallen wuͤrde, wenn man ſie mit
Haaren bekleidete„? und es ſcharfſinnig vernei-
net, weil ſie ſodann einer Kuh zu aͤhnlich waͤre.
Kuh einer Kuh zu aͤhnlich? das iſt Kuh, aber
zu ſehr Kuh? ich antworte gerade hin, weil ſie
ſodann fuͤr die Kunſt gar nicht mehr Kuh, ſon-
dern ein ausgeſtopfter Haarbalg waͤre. Schleuß
das Auge und fuͤhle: da iſt weder Form noch Ge-
ſtalt mehr, geſchweige ſchoͤne Form, ſchoͤne Ge-
ſtalt. Wenn dort der Hirte, Myrons eherne
Kuh wegtreiben wollte, ſo wird dieſe weder
Hirte noch Kuͤnſtler beruͤhren, denn ſie iſt „einer
„Kuh gar zu aͤhnlich und doch nicht Kuh„, das
iſt, Popanz.

Viel feinere Sachen, als Tuͤnche und Kuh-
haut muͤſſen von der Statue wegbleiben, weil ſie
dem Gefuͤhl widerſtehen, weil ſie dem taſten-
den Sinn
keine ununterbrochene ſchoͤne Form
ſind. Dieſe Adern an Haͤnden, dieſe Knorpel
an Fingern, dieſe Knoͤchel an Knien muͤſſen ſo
geſchont, und in Fuͤlle des Ganzen verkleidet
werden; oder die Adern ſind kriechende Wuͤrme,
die Knorpel aufliegende Gewaͤchſe dem ſtillen dun-
keltaſtenden Gefuͤhl. Nicht ganze Fuͤlle Eines
Koͤrpers mehr, ſondern Abtrennungen, losge-
loͤſte Stuͤcke des Koͤrpers, die ſeine Zerſtoͤrung
weiſſagen, und ſich eben daher ſchon ſelbſt ent-

fernten.
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[44/0047] Man hat ebenmaͤßig gefraget: „ob Myrons „Kuh mehr gefallen wuͤrde, wenn man ſie mit Haaren bekleidete„? und es ſcharfſinnig vernei- net, weil ſie ſodann einer Kuh zu aͤhnlich waͤre. Kuh einer Kuh zu aͤhnlich? das iſt Kuh, aber zu ſehr Kuh? ich antworte gerade hin, weil ſie ſodann fuͤr die Kunſt gar nicht mehr Kuh, ſon- dern ein ausgeſtopfter Haarbalg waͤre. Schleuß das Auge und fuͤhle: da iſt weder Form noch Ge- ſtalt mehr, geſchweige ſchoͤne Form, ſchoͤne Ge- ſtalt. Wenn dort der Hirte, Myrons eherne Kuh wegtreiben wollte, ſo wird dieſe weder Hirte noch Kuͤnſtler beruͤhren, denn ſie iſt „einer „Kuh gar zu aͤhnlich und doch nicht Kuh„, das iſt, Popanz. Viel feinere Sachen, als Tuͤnche und Kuh- haut muͤſſen von der Statue wegbleiben, weil ſie dem Gefuͤhl widerſtehen, weil ſie dem taſten- den Sinn keine ununterbrochene ſchoͤne Form ſind. Dieſe Adern an Haͤnden, dieſe Knorpel an Fingern, dieſe Knoͤchel an Knien muͤſſen ſo geſchont, und in Fuͤlle des Ganzen verkleidet werden; oder die Adern ſind kriechende Wuͤrme, die Knorpel aufliegende Gewaͤchſe dem ſtillen dun- keltaſtenden Gefuͤhl. Nicht ganze Fuͤlle Eines Koͤrpers mehr, ſondern Abtrennungen, losge- loͤſte Stuͤcke des Koͤrpers, die ſeine Zerſtoͤrung weiſſagen, und ſich eben daher ſchon ſelbſt ent- fernten.

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/47>, abgerufen am 21.11.2024.