drunter, und es darf kein Wort mehr über sie gesagt werden: sie sprechen selbst. Und die spitze Schnürbrust und der heraufgezwängte Busen und der thurmhohe Kopfputz und der breite Zel- tenrock desgleichen. Jm gemeinen Leben kann Einiges von diesen und wenn ihr wollt Alles, durch Nebenbegriffe, durch frühe und alte oder neue Gewohnheit gewinnen. Das kleine Gesicht kann unter dem hohen Kopfputz, der Busen über dem Trichter vom Leibe, der kleine Fuß unter dem breiten Zelt wohl thun, das ist, wie der große Montesquieu sagt, die Jmagination aufwecken, daß sie herab- oder herabschlüpfe, was doch von allen sehr oft Zweck und Absicht allein ist. Nun stellet aber die ganze Figur mit Thurm, Zelt und umgekehrtem Kegel als Bildsäule dahin, und die Jmagination schlüpft wahrlich nicht mehr. Es ist ein häßliches Unthier von Lüsternheit und Gothischem Zwange, das den Leib verunstaltet und alle gute Formen vernichtet. Hat die Ge- stalt noch Rest von Gefühl, wie wird sie sich die grobe Taille oder den plumpen Silberfuß einer Griechischen Ceres oder Thetis wünschen!
Die Bildsäule steht also als Muster der Wohlform da, und auch in diesem Betracht ist Polyklets Regel das bleibendste Gesetz eines menschlichen Gesetzgebers. So wie es einen Strich auf der Erde giebt, in dem die schöne
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drunter, und es darf kein Wort mehr uͤber ſie geſagt werden: ſie ſprechen ſelbſt. Und die ſpitze Schnuͤrbruſt und der heraufgezwaͤngte Buſen und der thurmhohe Kopfputz und der breite Zel- tenrock desgleichen. Jm gemeinen Leben kann Einiges von dieſen und wenn ihr wollt Alles, durch Nebenbegriffe, durch fruͤhe und alte oder neue Gewohnheit gewinnen. Das kleine Geſicht kann unter dem hohen Kopfputz, der Buſen uͤber dem Trichter vom Leibe, der kleine Fuß unter dem breiten Zelt wohl thun, das iſt, wie der große Montesquieu ſagt, die Jmagination aufwecken, daß ſie herab- oder herabſchluͤpfe, was doch von allen ſehr oft Zweck und Abſicht allein iſt. Nun ſtellet aber die ganze Figur mit Thurm, Zelt und umgekehrtem Kegel als Bildſaͤule dahin, und die Jmagination ſchluͤpft wahrlich nicht mehr. Es iſt ein haͤßliches Unthier von Luͤſternheit und Gothiſchem Zwange, das den Leib verunſtaltet und alle gute Formen vernichtet. Hat die Ge- ſtalt noch Reſt von Gefuͤhl, wie wird ſie ſich die grobe Taille oder den plumpen Silberfuß einer Griechiſchen Ceres oder Thetis wuͤnſchen!
Die Bildſaͤule ſteht alſo als Muſter der Wohlform da, und auch in dieſem Betracht iſt Polyklets Regel das bleibendſte Geſetz eines menſchlichen Geſetzgebers. So wie es einen Strich auf der Erde giebt, in dem die ſchoͤne
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drunter, und es darf kein Wort mehr uͤber ſie
geſagt werden: ſie ſprechen ſelbſt. Und die ſpitze
Schnuͤrbruſt und der heraufgezwaͤngte Buſen
und der thurmhohe Kopfputz und der breite Zel-
tenrock desgleichen. Jm gemeinen Leben kann
Einiges von dieſen und wenn ihr wollt Alles, durch
Nebenbegriffe, durch fruͤhe und alte oder neue
Gewohnheit gewinnen. Das kleine Geſicht kann
unter dem hohen Kopfputz, der Buſen uͤber dem
Trichter vom Leibe, der kleine Fuß unter dem
breiten Zelt wohl thun, das iſt, wie der große
Montesquieu ſagt, die Jmagination aufwecken,
daß ſie herab- oder herabſchluͤpfe, was doch von
allen ſehr oft Zweck und Abſicht allein iſt. Nun
ſtellet aber die ganze Figur mit Thurm, Zelt
und umgekehrtem Kegel als Bildſaͤule dahin,
und die Jmagination ſchluͤpft wahrlich nicht mehr.
Es iſt ein haͤßliches Unthier von Luͤſternheit und
Gothiſchem Zwange, das den Leib verunſtaltet
und alle gute Formen vernichtet. Hat die Ge-
ſtalt noch Reſt von Gefuͤhl, wie wird ſie ſich die
grobe Taille oder den plumpen Silberfuß einer
Griechiſchen Ceres oder Thetis wuͤnſchen!
Die Bildſaͤule ſteht alſo als Muſter der
Wohlform da, und auch in dieſem Betracht iſt
Polyklets Regel das bleibendſte Geſetz eines
menſchlichen Geſetzgebers. So wie es einen
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/60>, abgerufen am 16.02.2025.
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