welch ein Finger von Fleisch und Blut diesen Ab- grund inwendig gährender oder stiller Kräfte er- tappen an der äußern Rinde! Die Gottheit selbst hat diese heilige Höhe, den Olympus oder Libanon unsers Gewächses, als den Aufenthalt und die Werkstäte ihrer geheimsten Würkung mit einem Hainen) bedeckt, mit dem sie sonst auch alle ihre Geheimnisse deckte. Man schauert, wenn man sich das Rund umfaßt denket, in dem eine Schö- pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem Chaos leuchtet, eine Welt schmücken und erleuch- ten, oder eine Welt zerschmettern und verwüsten kann. Die Nordischen Völker nannten den Him- mel Ymers Haupt und träumten ihn aus seinem Schädel entstanden; es ist wohl auch niemand, der, wenn die große und kleine Welt übereinstim- men und der kleine Mensch Begrif und Auszug der großen Schöpfung seyn soll, die Aehnlichkeit dieses Gipfels, der Krone unsers Daseyns, an- derswo suchen werde, als dort, wo das unermäß- liche Blau über Dunst und Wolken ein Abgrund wird, den nur Seine Hand umspannet und Sein Geist durchreget. Mich dünkt, hier ist Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich scheint, daß bei anstrengender Arbeit wir die Kräfte der Sinne und Lebensgeister näher ihren Pforten und ihrer Tafel, dem Auge und der
Stirn;
n) Das Haar.
welch ein Finger von Fleiſch und Blut dieſen Ab- grund inwendig gaͤhrender oder ſtiller Kraͤfte er- tappen an der aͤußern Rinde! Die Gottheit ſelbſt hat dieſe heilige Hoͤhe, den Olympus oder Libanon unſers Gewaͤchſes, als den Aufenthalt und die Werkſtaͤte ihrer geheimſten Wuͤrkung mit einem Hainen) bedeckt, mit dem ſie ſonſt auch alle ihre Geheimniſſe deckte. Man ſchauert, wenn man ſich das Rund umfaßt denket, in dem eine Schoͤ- pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem Chaos leuchtet, eine Welt ſchmuͤcken und erleuch- ten, oder eine Welt zerſchmettern und verwuͤſten kann. Die Nordiſchen Voͤlker nannten den Him- mel Ymers Haupt und traͤumten ihn aus ſeinem Schaͤdel entſtanden; es iſt wohl auch niemand, der, wenn die große und kleine Welt uͤbereinſtim- men und der kleine Menſch Begrif und Auszug der großen Schoͤpfung ſeyn ſoll, die Aehnlichkeit dieſes Gipfels, der Krone unſers Daſeyns, an- derswo ſuchen werde, als dort, wo das unermaͤß- liche Blau uͤber Dunſt und Wolken ein Abgrund wird, den nur Seine Hand umſpannet und Sein Geiſt durchreget. Mich duͤnkt, hier iſt Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich ſcheint, daß bei anſtrengender Arbeit wir die Kraͤfte der Sinne und Lebensgeiſter naͤher ihren Pforten und ihrer Tafel, dem Auge und der
Stirn;
n) Das Haar.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0071"n="68"/>
welch ein Finger von Fleiſch und Blut dieſen Ab-<lb/>
grund inwendig gaͤhrender oder ſtiller Kraͤfte er-<lb/>
tappen an der aͤußern <hirendition="#fr">Rinde</hi>! Die Gottheit ſelbſt<lb/>
hat dieſe heilige Hoͤhe, den Olympus oder Libanon<lb/>
unſers Gewaͤchſes, als den Aufenthalt und die<lb/>
Werkſtaͤte ihrer geheimſten Wuͤrkung mit einem<lb/>
Haine<noteplace="foot"n="n)">Das Haar.</note> bedeckt, mit dem ſie ſonſt auch alle ihre<lb/>
Geheimniſſe deckte. Man ſchauert, wenn man<lb/>ſich das Rund umfaßt denket, in dem eine Schoͤ-<lb/>
pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem<lb/>
Chaos leuchtet, eine Welt ſchmuͤcken und erleuch-<lb/>
ten, oder eine Welt zerſchmettern und verwuͤſten<lb/>
kann. Die Nordiſchen Voͤlker nannten den Him-<lb/>
mel <hirendition="#fr">Ymers Haupt</hi> und traͤumten ihn aus ſeinem<lb/>
Schaͤdel entſtanden; es iſt wohl auch niemand,<lb/>
der, wenn die große und kleine Welt uͤbereinſtim-<lb/>
men und der kleine Menſch Begrif und Auszug<lb/>
der großen Schoͤpfung ſeyn ſoll, die Aehnlichkeit<lb/>
dieſes Gipfels, der Krone unſers Daſeyns, an-<lb/>
derswo ſuchen werde, als dort, wo das unermaͤß-<lb/>
liche Blau uͤber Dunſt und Wolken ein Abgrund<lb/>
wird, den nur <hirendition="#fr">Seine</hi> Hand umſpannet und<lb/><hirendition="#fr">Sein</hi> Geiſt durchreget. Mich duͤnkt, hier iſt<lb/>
Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich<lb/>ſcheint, daß bei anſtrengender Arbeit wir die<lb/>
Kraͤfte der <hirendition="#fr">Sinne</hi> und <hirendition="#fr">Lebensgeiſter</hi> naͤher ihren<lb/>
Pforten und ihrer Tafel, dem <hirendition="#fr">Auge</hi> und der<lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">Stirn</hi>;</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[68/0071]
welch ein Finger von Fleiſch und Blut dieſen Ab-
grund inwendig gaͤhrender oder ſtiller Kraͤfte er-
tappen an der aͤußern Rinde! Die Gottheit ſelbſt
hat dieſe heilige Hoͤhe, den Olympus oder Libanon
unſers Gewaͤchſes, als den Aufenthalt und die
Werkſtaͤte ihrer geheimſten Wuͤrkung mit einem
Haine n) bedeckt, mit dem ſie ſonſt auch alle ihre
Geheimniſſe deckte. Man ſchauert, wenn man
ſich das Rund umfaßt denket, in dem eine Schoͤ-
pfung wohnet, in dem Ein Blitz, der da aus dem
Chaos leuchtet, eine Welt ſchmuͤcken und erleuch-
ten, oder eine Welt zerſchmettern und verwuͤſten
kann. Die Nordiſchen Voͤlker nannten den Him-
mel Ymers Haupt und traͤumten ihn aus ſeinem
Schaͤdel entſtanden; es iſt wohl auch niemand,
der, wenn die große und kleine Welt uͤbereinſtim-
men und der kleine Menſch Begrif und Auszug
der großen Schoͤpfung ſeyn ſoll, die Aehnlichkeit
dieſes Gipfels, der Krone unſers Daſeyns, an-
derswo ſuchen werde, als dort, wo das unermaͤß-
liche Blau uͤber Dunſt und Wolken ein Abgrund
wird, den nur Seine Hand umſpannet und
Sein Geiſt durchreget. Mich duͤnkt, hier iſt
Alles Tiefe und Geheimniß und ob es gleich
ſcheint, daß bei anſtrengender Arbeit wir die
Kraͤfte der Sinne und Lebensgeiſter naͤher ihren
Pforten und ihrer Tafel, dem Auge und der
Stirn;
n) Das Haar.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/71>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.