wie sich seine Backe schließt. Ob er ewig knir- sche und grinse? oder bei jeder Oefnung den ri- ctum leonis, das khasm odonton mache, das ei- ne unausstehlich freundliche Zerrung ist? oder alles schlaff hange, und statt einer vollen Lieb- und Ueberredungduftenden Rose, ein Mundlap- pe da sei? Ein reiner, zarter Mund ist vielleicht die schönste Empfehlung des gemeinen Lebens: denn, wie die Pforte, so glaubt man sei auch der Gast, der heraus tritt, das Wort des Her- zens und der Seele. Der Ausdruck: an je- mandes Munde hangen; die zwo Purpurfä- den des Hohenliedes, die süßen Duft athmen: das Sprüchwort vom verschloßnen und offnen Munde ist, dünkt mich, lauter Physisches Le- ben. Hier ist der Kelch der Wahrheit, der Be- cher der Liebe und zartesten Freundschaft.
Die Unterlippe fängt schon an, das Kinn zu bilden, und der Kinnknochen, der von beiden Seiten herabkommt, beschließt es. Es zeigt viel, wenn ich figürlich reden darf, von der Wurzel der Sinnlichkeit im Menschen, ob sie vest oder lose, rund oder schwammig sei? und mit welchen Füßen er gleichsam im Erdreich ste- he? Da das Kinn die ganze Ellypse des Ange- sichts ründet, so ists, wann es, wie bei den Griechen, nicht spitz, nicht gehölt, sondern un- unterbrochen, ganz und leicht herabfließt, der
ächte
wie ſich ſeine Backe ſchließt. Ob er ewig knir- ſche und grinſe? oder bei jeder Oefnung den ri- ctum leonis, das χασμ̕ οδοντων mache, das ei- ne unausſtehlich freundliche Zerrung iſt? oder alles ſchlaff hange, und ſtatt einer vollen Lieb- und Ueberredungduftenden Roſe, ein Mundlap- pe da ſei? Ein reiner, zarter Mund iſt vielleicht die ſchoͤnſte Empfehlung des gemeinen Lebens: denn, wie die Pforte, ſo glaubt man ſei auch der Gaſt, der heraus tritt, das Wort des Her- zens und der Seele. Der Ausdruck: an je- mandes Munde hangen; die zwo Purpurfaͤ- den des Hohenliedes, die ſuͤßen Duft athmen: das Spruͤchwort vom verſchloßnen und offnen Munde iſt, duͤnkt mich, lauter Phyſiſches Le- ben. Hier iſt der Kelch der Wahrheit, der Be- cher der Liebe und zarteſten Freundſchaft.
Die Unterlippe faͤngt ſchon an, das Kinn zu bilden, und der Kinnknochen, der von beiden Seiten herabkommt, beſchließt es. Es zeigt viel, wenn ich figuͤrlich reden darf, von der Wurzel der Sinnlichkeit im Menſchen, ob ſie veſt oder loſe, rund oder ſchwammig ſei? und mit welchen Fuͤßen er gleichſam im Erdreich ſte- he? Da das Kinn die ganze Ellypſe des Ange- ſichts ruͤndet, ſo iſts, wann es, wie bei den Griechen, nicht ſpitz, nicht gehoͤlt, ſondern un- unterbrochen, ganz und leicht herabfließt, der
aͤchte
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wie ſich ſeine Backe ſchließt. Ob er ewig knir-
ſche und grinſe? oder bei jeder Oefnung den ri-
ctum leonis, das χασμ̕ οδοντων mache, das ei-
ne unausſtehlich freundliche Zerrung iſt? oder
alles ſchlaff hange, und ſtatt einer vollen Lieb-
und Ueberredungduftenden Roſe, ein Mundlap-
pe da ſei? Ein reiner, zarter Mund iſt vielleicht
die ſchoͤnſte Empfehlung des gemeinen Lebens:
denn, wie die Pforte, ſo glaubt man ſei auch
der Gaſt, der heraus tritt, das Wort des Her-
zens und der Seele. Der Ausdruck: an je-
mandes Munde hangen; die zwo Purpurfaͤ-
den des Hohenliedes, die ſuͤßen Duft athmen:
das Spruͤchwort vom verſchloßnen und offnen
Munde iſt, duͤnkt mich, lauter Phyſiſches Le-
ben. Hier iſt der Kelch der Wahrheit, der Be-
cher der Liebe und zarteſten Freundſchaft.
Die Unterlippe faͤngt ſchon an, das Kinn zu
bilden, und der Kinnknochen, der von beiden
Seiten herabkommt, beſchließt es. Es zeigt
viel, wenn ich figuͤrlich reden darf, von der
Wurzel der Sinnlichkeit im Menſchen, ob ſie
veſt oder loſe, rund oder ſchwammig ſei? und
mit welchen Fuͤßen er gleichſam im Erdreich ſte-
he? Da das Kinn die ganze Ellypſe des Ange-
ſichts ruͤndet, ſo iſts, wann es, wie bei den
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/85>, abgerufen am 16.02.2025.
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