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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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längern Schenkel schreiten: die andern Glieder
ziehn sich gleichsam bescheiden zurück, denn sie
sind nicht in der Handlung. Eine Gestalt soll
verlangen, bitten, wünschen, flehen mit ihrem
Munde; unvermerkt beugt dieser sich sanft vor,
daß auf ihm Hauch, Gebet, Verlangen, Wunsch,
Kuß schwebe. Selbst bis zum Ohre, wenn es
horcht, erstreckt sich diese feine Bewegung und
Andeutung. Die Form des handelnden
Gliedes
spricht immer: ich bin da, ich würke.
Und ist dies im seinen zarten Gesicht, um so
mehr ists im ganzen Körper. Wie kann die
Hand befehlen, ohne daß sie sich erhebe und ihr
Amt andeute? wie kann die Brust sich darbieten
und schützen, ohne daß sie unvermerkt vortrete
und spreche: ich bin gewölbet. Ein schöner
Bauch blähet sich nicht: aber natürlich sinkt Bac-
chus in eine ihm vortheilhafte Stellung: er lehnt
sich sanft an mit dem Arme, daß seine schöne
Weiblichkeit in Rücken und Brust, in Bauch
und Hüften in ihrer bedeutenden Sprache rede.
Und dies alles sind keine Kunstregeln, keine stu-
dirte Uebereinkommnisse, es ist die natürliche
Sprache der Seele durch unsern ganzen
Körper,
die Grundbuchstaben und das Alphabet
alle dessen, was Stellung, Handlung, Cha-
rakter
ist und wodurch diese nur möglich wer-
den. -- --

Also

laͤngern Schenkel ſchreiten: die andern Glieder
ziehn ſich gleichſam beſcheiden zuruͤck, denn ſie
ſind nicht in der Handlung. Eine Geſtalt ſoll
verlangen, bitten, wuͤnſchen, flehen mit ihrem
Munde; unvermerkt beugt dieſer ſich ſanft vor,
daß auf ihm Hauch, Gebet, Verlangen, Wunſch,
Kuß ſchwebe. Selbſt bis zum Ohre, wenn es
horcht, erſtreckt ſich dieſe feine Bewegung und
Andeutung. Die Form des handelnden
Gliedes
ſpricht immer: ich bin da, ich wuͤrke.
Und iſt dies im ſeinen zarten Geſicht, um ſo
mehr iſts im ganzen Koͤrper. Wie kann die
Hand befehlen, ohne daß ſie ſich erhebe und ihr
Amt andeute? wie kann die Bruſt ſich darbieten
und ſchuͤtzen, ohne daß ſie unvermerkt vortrete
und ſpreche: ich bin gewoͤlbet. Ein ſchoͤner
Bauch blaͤhet ſich nicht: aber natuͤrlich ſinkt Bac-
chus in eine ihm vortheilhafte Stellung: er lehnt
ſich ſanft an mit dem Arme, daß ſeine ſchoͤne
Weiblichkeit in Ruͤcken und Bruſt, in Bauch
und Huͤften in ihrer bedeutenden Sprache rede.
Und dies alles ſind keine Kunſtregeln, keine ſtu-
dirte Uebereinkommniſſe, es iſt die natuͤrliche
Sprache der Seele durch unſern ganzen
Koͤrper,
die Grundbuchſtaben und das Alphabet
alle deſſen, was Stellung, Handlung, Cha-
rakter
iſt und wodurch dieſe nur moͤglich wer-
den. — —

Alſo
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[93/0096] laͤngern Schenkel ſchreiten: die andern Glieder ziehn ſich gleichſam beſcheiden zuruͤck, denn ſie ſind nicht in der Handlung. Eine Geſtalt ſoll verlangen, bitten, wuͤnſchen, flehen mit ihrem Munde; unvermerkt beugt dieſer ſich ſanft vor, daß auf ihm Hauch, Gebet, Verlangen, Wunſch, Kuß ſchwebe. Selbſt bis zum Ohre, wenn es horcht, erſtreckt ſich dieſe feine Bewegung und Andeutung. Die Form des handelnden Gliedes ſpricht immer: ich bin da, ich wuͤrke. Und iſt dies im ſeinen zarten Geſicht, um ſo mehr iſts im ganzen Koͤrper. Wie kann die Hand befehlen, ohne daß ſie ſich erhebe und ihr Amt andeute? wie kann die Bruſt ſich darbieten und ſchuͤtzen, ohne daß ſie unvermerkt vortrete und ſpreche: ich bin gewoͤlbet. Ein ſchoͤner Bauch blaͤhet ſich nicht: aber natuͤrlich ſinkt Bac- chus in eine ihm vortheilhafte Stellung: er lehnt ſich ſanft an mit dem Arme, daß ſeine ſchoͤne Weiblichkeit in Ruͤcken und Bruſt, in Bauch und Huͤften in ihrer bedeutenden Sprache rede. Und dies alles ſind keine Kunſtregeln, keine ſtu- dirte Uebereinkommniſſe, es iſt die natuͤrliche Sprache der Seele durch unſern ganzen Koͤrper, die Grundbuchſtaben und das Alphabet alle deſſen, was Stellung, Handlung, Cha- rakter iſt und wodurch dieſe nur moͤglich wer- den. — — Alſo

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/96>, abgerufen am 21.11.2024.