Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

ging. Seine Seele war von dem neu geschenkten
Leben zu voll. Aber Marlene lag in Thränen auf¬
gelöst und antwortete auf keine Frage des Arztes.
Auch später erfuhr man nichts von ihr. Sie wisse
nicht, wie es gekommen; man solle ihr vergeben, daß
sie so kindisch geweint habe. Sie wolle Alles hin¬
nehmen, wie es ihr beschieden sei. Habe sie es doch
bisher nicht anders gekannt.

Als man Clemens das Unglück klar gemacht hatte,
gerieth er außer sich, stürzte zu ihr und schrie unauf¬
hörlich: "Du sollst auch sehen! Ich will nichts vor
dir voraus haben. Sei ruhig, es wird nicht Alles
verloren sein. Ach nun weiß ich erst, was du ver¬
loren hättest! Es ist nichts, daß man selber sieht.
Aber Alles ringsum hat Augen und sieht uns an,
als hätt' es uns lieb. Und es wird dich auch an¬
sehen; gedulde dich nur und weine nicht." -- Und
dann fragte er nach dem Arzt und drängte sich ungestüm
an ihn und bat unter Thränen, Marlenen zu helfen.
Dem braven Manne standen helle Tropfen im Auge;
er faßte sich mühsam, ermahnte ihn sich zu schonen,
er wolle sehen, was zu thun sei, und hielt ihn mit
Hoffnungen hin, um eine Aufregung zu verhüten, die
ihm hätte gefährlich werden können. Den Eltern
verhehlte er die trostlose Wahrheit nicht.

Aber des Knaben Schmerz schien Marlene ge¬
tröstet zu haben. Sie saß still am Fenster und rief

ging. Seine Seele war von dem neu geſchenkten
Leben zu voll. Aber Marlene lag in Thränen auf¬
gelöſt und antwortete auf keine Frage des Arztes.
Auch ſpäter erfuhr man nichts von ihr. Sie wiſſe
nicht, wie es gekommen; man ſolle ihr vergeben, daß
ſie ſo kindiſch geweint habe. Sie wolle Alles hin¬
nehmen, wie es ihr beſchieden ſei. Habe ſie es doch
bisher nicht anders gekannt.

Als man Clemens das Unglück klar gemacht hatte,
gerieth er außer ſich, ſtürzte zu ihr und ſchrie unauf¬
hörlich: „Du ſollſt auch ſehen! Ich will nichts vor
dir voraus haben. Sei ruhig, es wird nicht Alles
verloren ſein. Ach nun weiß ich erſt, was du ver¬
loren hätteſt! Es iſt nichts, daß man ſelber ſieht.
Aber Alles ringsum hat Augen und ſieht uns an,
als hätt' es uns lieb. Und es wird dich auch an¬
ſehen; gedulde dich nur und weine nicht.“ — Und
dann fragte er nach dem Arzt und drängte ſich ungeſtüm
an ihn und bat unter Thränen, Marlenen zu helfen.
Dem braven Manne ſtanden helle Tropfen im Auge;
er faßte ſich mühſam, ermahnte ihn ſich zu ſchonen,
er wolle ſehen, was zu thun ſei, und hielt ihn mit
Hoffnungen hin, um eine Aufregung zu verhüten, die
ihm hätte gefährlich werden können. Den Eltern
verhehlte er die troſtloſe Wahrheit nicht.

Aber des Knaben Schmerz ſchien Marlene ge¬
tröſtet zu haben. Sie ſaß ſtill am Fenſter und rief

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0033" n="21"/>
ging. Seine Seele war von dem neu ge&#x017F;chenkten<lb/>
Leben zu voll. Aber Marlene lag in Thränen auf¬<lb/>
gelö&#x017F;t und antwortete auf keine Frage des Arztes.<lb/>
Auch &#x017F;päter erfuhr man nichts von ihr. Sie wi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
nicht, wie es gekommen; man &#x017F;olle ihr vergeben, daß<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;o kindi&#x017F;ch geweint habe. Sie wolle Alles hin¬<lb/>
nehmen, wie es ihr be&#x017F;chieden &#x017F;ei. Habe &#x017F;ie es doch<lb/>
bisher nicht anders gekannt.</p><lb/>
          <p>Als man Clemens das Unglück klar gemacht hatte,<lb/>
gerieth er außer &#x017F;ich, &#x017F;türzte zu ihr und &#x017F;chrie unauf¬<lb/>
hörlich: &#x201E;Du &#x017F;oll&#x017F;t auch &#x017F;ehen! Ich will nichts vor<lb/>
dir voraus haben. Sei ruhig, es wird nicht Alles<lb/>
verloren &#x017F;ein. Ach nun weiß ich er&#x017F;t, <hi rendition="#g">was</hi> du ver¬<lb/>
loren hätte&#x017F;t! Es i&#x017F;t nichts, daß man &#x017F;elber &#x017F;ieht.<lb/>
Aber Alles ringsum hat Augen und &#x017F;ieht uns an,<lb/>
als hätt' es uns lieb. Und es wird dich auch an¬<lb/>
&#x017F;ehen; gedulde dich nur und weine nicht.&#x201C; &#x2014; Und<lb/>
dann fragte er nach dem Arzt und drängte &#x017F;ich unge&#x017F;tüm<lb/>
an ihn und bat unter Thränen, Marlenen zu helfen.<lb/>
Dem braven Manne &#x017F;tanden helle Tropfen im Auge;<lb/>
er faßte &#x017F;ich müh&#x017F;am, ermahnte ihn &#x017F;ich zu &#x017F;chonen,<lb/>
er wolle &#x017F;ehen, was zu thun &#x017F;ei, und hielt ihn mit<lb/>
Hoffnungen hin, um eine Aufregung zu verhüten, die<lb/>
ihm hätte gefährlich werden können. Den Eltern<lb/>
verhehlte er die tro&#x017F;tlo&#x017F;e Wahrheit nicht.</p><lb/>
          <p>Aber des Knaben Schmerz &#x017F;chien Marlene ge¬<lb/>
trö&#x017F;tet zu haben. Sie &#x017F;&#x017F;till am Fen&#x017F;ter und rief<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0033] ging. Seine Seele war von dem neu geſchenkten Leben zu voll. Aber Marlene lag in Thränen auf¬ gelöſt und antwortete auf keine Frage des Arztes. Auch ſpäter erfuhr man nichts von ihr. Sie wiſſe nicht, wie es gekommen; man ſolle ihr vergeben, daß ſie ſo kindiſch geweint habe. Sie wolle Alles hin¬ nehmen, wie es ihr beſchieden ſei. Habe ſie es doch bisher nicht anders gekannt. Als man Clemens das Unglück klar gemacht hatte, gerieth er außer ſich, ſtürzte zu ihr und ſchrie unauf¬ hörlich: „Du ſollſt auch ſehen! Ich will nichts vor dir voraus haben. Sei ruhig, es wird nicht Alles verloren ſein. Ach nun weiß ich erſt, was du ver¬ loren hätteſt! Es iſt nichts, daß man ſelber ſieht. Aber Alles ringsum hat Augen und ſieht uns an, als hätt' es uns lieb. Und es wird dich auch an¬ ſehen; gedulde dich nur und weine nicht.“ — Und dann fragte er nach dem Arzt und drängte ſich ungeſtüm an ihn und bat unter Thränen, Marlenen zu helfen. Dem braven Manne ſtanden helle Tropfen im Auge; er faßte ſich mühſam, ermahnte ihn ſich zu ſchonen, er wolle ſehen, was zu thun ſei, und hielt ihn mit Hoffnungen hin, um eine Aufregung zu verhüten, die ihm hätte gefährlich werden können. Den Eltern verhehlte er die troſtloſe Wahrheit nicht. Aber des Knaben Schmerz ſchien Marlene ge¬ tröſtet zu haben. Sie ſaß ſtill am Fenſter und rief

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/33
Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/33>, abgerufen am 22.12.2024.