Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.es schien förmlich, als wäre ihm durch diese Selbstverbannung seines Zöglings eine Last vom Herzen genommen. Er sprach noch immer fleißig vor auf Goyen, hörte Jeden nach seiner verschiedenen Gemüthsart mit Wohlwollen an, sprach überall zum Guten und wußte das Gespräch bald auf die heurige Lese und die Hoffnungen auf einen ausgesucht edlen Jahrgang zu lenken, ein Gegenstand, den er mit tiefer Wissenschaft ergründet hatte und selbst den theologischen Erörterungen mit der Tante Anna entschieden vorzog. Und so war es hoher November geworden, das leere Haus oben auf dem Küchelberg stand winterlich zwischen den kahlen Rebengärten, unten in der Stadt Meran wogte das geschäftige Treiben eines der jährlichen Schlacht- und Viehmärkte durch die engen Gassen, das Samstagsgeläut war verhallt, und der Zehnuhrmesser, der den Abend nicht mehr auszugehen dachte, hatte seine alte Geige von der Wand genommen, um in der Dämmerung noch ein Stück vor sich hin zu phantasiren, ehe die Magd mit dem Nachtessen ihm das Licht heraufbrachte. Der Kater lag behaglich schnurrend im Lehnstuhl, ein erstes Feuerchen knisterte im Ofen, da die Nacht kühl zu werden versprach, vom Fenster her, wo ein paar schöne Geraniumtöpfe standen, kam ein süßer Duft, den die feine Nase des geistlichen Herrn behaglich einsog, und während er in den glücklichsten Flageolettönen alle es schien förmlich, als wäre ihm durch diese Selbstverbannung seines Zöglings eine Last vom Herzen genommen. Er sprach noch immer fleißig vor auf Goyen, hörte Jeden nach seiner verschiedenen Gemüthsart mit Wohlwollen an, sprach überall zum Guten und wußte das Gespräch bald auf die heurige Lese und die Hoffnungen auf einen ausgesucht edlen Jahrgang zu lenken, ein Gegenstand, den er mit tiefer Wissenschaft ergründet hatte und selbst den theologischen Erörterungen mit der Tante Anna entschieden vorzog. Und so war es hoher November geworden, das leere Haus oben auf dem Küchelberg stand winterlich zwischen den kahlen Rebengärten, unten in der Stadt Meran wogte das geschäftige Treiben eines der jährlichen Schlacht- und Viehmärkte durch die engen Gassen, das Samstagsgeläut war verhallt, und der Zehnuhrmesser, der den Abend nicht mehr auszugehen dachte, hatte seine alte Geige von der Wand genommen, um in der Dämmerung noch ein Stück vor sich hin zu phantasiren, ehe die Magd mit dem Nachtessen ihm das Licht heraufbrachte. Der Kater lag behaglich schnurrend im Lehnstuhl, ein erstes Feuerchen knisterte im Ofen, da die Nacht kühl zu werden versprach, vom Fenster her, wo ein paar schöne Geraniumtöpfe standen, kam ein süßer Duft, den die feine Nase des geistlichen Herrn behaglich einsog, und während er in den glücklichsten Flageolettönen alle <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0104"/> es schien förmlich, als wäre ihm durch diese Selbstverbannung seines Zöglings eine Last vom Herzen genommen. Er sprach noch immer fleißig vor auf Goyen, hörte Jeden nach seiner verschiedenen Gemüthsart mit Wohlwollen an, sprach überall zum Guten und wußte das Gespräch bald auf die heurige Lese und die Hoffnungen auf einen ausgesucht edlen Jahrgang zu lenken, ein Gegenstand, den er mit tiefer Wissenschaft ergründet hatte und selbst den theologischen Erörterungen mit der Tante Anna entschieden vorzog.</p><lb/> <p>Und so war es hoher November geworden, das leere Haus oben auf dem Küchelberg stand winterlich zwischen den kahlen Rebengärten, unten in der Stadt Meran wogte das geschäftige Treiben eines der jährlichen Schlacht- und Viehmärkte durch die engen Gassen, das Samstagsgeläut war verhallt, und der Zehnuhrmesser, der den Abend nicht mehr auszugehen dachte, hatte seine alte Geige von der Wand genommen, um in der Dämmerung noch ein Stück vor sich hin zu phantasiren, ehe die Magd mit dem Nachtessen ihm das Licht heraufbrachte. Der Kater lag behaglich schnurrend im Lehnstuhl, ein erstes Feuerchen knisterte im Ofen, da die Nacht kühl zu werden versprach, vom Fenster her, wo ein paar schöne Geraniumtöpfe standen, kam ein süßer Duft, den die feine Nase des geistlichen Herrn behaglich einsog, und während er in den glücklichsten Flageolettönen alle<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0104]
es schien förmlich, als wäre ihm durch diese Selbstverbannung seines Zöglings eine Last vom Herzen genommen. Er sprach noch immer fleißig vor auf Goyen, hörte Jeden nach seiner verschiedenen Gemüthsart mit Wohlwollen an, sprach überall zum Guten und wußte das Gespräch bald auf die heurige Lese und die Hoffnungen auf einen ausgesucht edlen Jahrgang zu lenken, ein Gegenstand, den er mit tiefer Wissenschaft ergründet hatte und selbst den theologischen Erörterungen mit der Tante Anna entschieden vorzog.
Und so war es hoher November geworden, das leere Haus oben auf dem Küchelberg stand winterlich zwischen den kahlen Rebengärten, unten in der Stadt Meran wogte das geschäftige Treiben eines der jährlichen Schlacht- und Viehmärkte durch die engen Gassen, das Samstagsgeläut war verhallt, und der Zehnuhrmesser, der den Abend nicht mehr auszugehen dachte, hatte seine alte Geige von der Wand genommen, um in der Dämmerung noch ein Stück vor sich hin zu phantasiren, ehe die Magd mit dem Nachtessen ihm das Licht heraufbrachte. Der Kater lag behaglich schnurrend im Lehnstuhl, ein erstes Feuerchen knisterte im Ofen, da die Nacht kühl zu werden versprach, vom Fenster her, wo ein paar schöne Geraniumtöpfe standen, kam ein süßer Duft, den die feine Nase des geistlichen Herrn behaglich einsog, und während er in den glücklichsten Flageolettönen alle
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