Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Zehnuhrmesser," war noch geraume Zeit das Ehrenvollste, was man von einem Kenner zu rühmen wußte. Unter den mancherlei Gaben und Tugenden unseres Ehrenmannes war aber der Muth nicht eben die stärkste. Seine Nerven, obwohl er aus einer Bauernfamilie im Passeier stammte, die zu Hofer's Kriegen manchen tapfern Schützen geliefert hatte, ließen seine leichterschütterte Seele bei jeder unversehenen Probe im Stich, außer wo es eine fremde Seele zu retten, oder sonst eine hohe Gewissenspflicht zu erfüllen galt. Auch dann zog er es vor, seiner moralischen Kraft erst mit einer physischen Stärkung nachzuhelfen, und sorgte dafür, daß ein mäßiges Fäßchen voll weißem Terlaner, dem er am meisten begeisternde Wirkungen zuschrieb, im Keller seines Hauses niemals ganz versiegte. Heute nun, da er von einem Krankenbesuch im Dorf Algund ohne Labung zurückkehren mußte, war er keiner starken Prüfung gewachsen und erschrak aufs Heftigste, als plötzlich dicht neben ihm eine dunkle Gestalt hoch von der Weinbergsmauer herabsprang und auf ihn zustürzend seine Hand ergriff. Gelobt sei Jesus Christus! sagte er, am ganzen Leibe zitternd. In Ewigkeit! antwortete der Bursch. Du bist's, Andree, mein Sohn? Hab' ich doch gemeint, der böse Feind komme mir mit Macht über den Hals, der ja im Weinberge des Herrn herumschleicht, zu sehen, wen er verschlinge. Nun, nun, Zehnuhrmesser,“ war noch geraume Zeit das Ehrenvollste, was man von einem Kenner zu rühmen wußte. Unter den mancherlei Gaben und Tugenden unseres Ehrenmannes war aber der Muth nicht eben die stärkste. Seine Nerven, obwohl er aus einer Bauernfamilie im Passeier stammte, die zu Hofer's Kriegen manchen tapfern Schützen geliefert hatte, ließen seine leichterschütterte Seele bei jeder unversehenen Probe im Stich, außer wo es eine fremde Seele zu retten, oder sonst eine hohe Gewissenspflicht zu erfüllen galt. Auch dann zog er es vor, seiner moralischen Kraft erst mit einer physischen Stärkung nachzuhelfen, und sorgte dafür, daß ein mäßiges Fäßchen voll weißem Terlaner, dem er am meisten begeisternde Wirkungen zuschrieb, im Keller seines Hauses niemals ganz versiegte. Heute nun, da er von einem Krankenbesuch im Dorf Algund ohne Labung zurückkehren mußte, war er keiner starken Prüfung gewachsen und erschrak aufs Heftigste, als plötzlich dicht neben ihm eine dunkle Gestalt hoch von der Weinbergsmauer herabsprang und auf ihn zustürzend seine Hand ergriff. Gelobt sei Jesus Christus! sagte er, am ganzen Leibe zitternd. In Ewigkeit! antwortete der Bursch. Du bist's, Andree, mein Sohn? Hab' ich doch gemeint, der böse Feind komme mir mit Macht über den Hals, der ja im Weinberge des Herrn herumschleicht, zu sehen, wen er verschlinge. Nun, nun, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0012"/> Zehnuhrmesser,“ war noch geraume Zeit das Ehrenvollste, was man von einem Kenner zu rühmen wußte.</p><lb/> <p>Unter den mancherlei Gaben und Tugenden unseres Ehrenmannes war aber der Muth nicht eben die stärkste. Seine Nerven, obwohl er aus einer Bauernfamilie im Passeier stammte, die zu Hofer's Kriegen manchen tapfern Schützen geliefert hatte, ließen seine leichterschütterte Seele bei jeder unversehenen Probe im Stich, außer wo es eine fremde Seele zu retten, oder sonst eine hohe Gewissenspflicht zu erfüllen galt. Auch dann zog er es vor, seiner moralischen Kraft erst mit einer physischen Stärkung nachzuhelfen, und sorgte dafür, daß ein mäßiges Fäßchen voll weißem Terlaner, dem er am meisten begeisternde Wirkungen zuschrieb, im Keller seines Hauses niemals ganz versiegte. Heute nun, da er von einem Krankenbesuch im Dorf Algund ohne Labung zurückkehren mußte, war er keiner starken Prüfung gewachsen und erschrak aufs Heftigste, als plötzlich dicht neben ihm eine dunkle Gestalt hoch von der Weinbergsmauer herabsprang und auf ihn zustürzend seine Hand ergriff.</p><lb/> <p>Gelobt sei Jesus Christus! sagte er, am ganzen Leibe zitternd.</p><lb/> <p>In Ewigkeit! antwortete der Bursch.</p><lb/> <p>Du bist's, Andree, mein Sohn? Hab' ich doch gemeint, der böse Feind komme mir mit Macht über den Hals, der ja im Weinberge des Herrn herumschleicht, zu sehen, wen er verschlinge. Nun, nun,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0012]
Zehnuhrmesser,“ war noch geraume Zeit das Ehrenvollste, was man von einem Kenner zu rühmen wußte.
Unter den mancherlei Gaben und Tugenden unseres Ehrenmannes war aber der Muth nicht eben die stärkste. Seine Nerven, obwohl er aus einer Bauernfamilie im Passeier stammte, die zu Hofer's Kriegen manchen tapfern Schützen geliefert hatte, ließen seine leichterschütterte Seele bei jeder unversehenen Probe im Stich, außer wo es eine fremde Seele zu retten, oder sonst eine hohe Gewissenspflicht zu erfüllen galt. Auch dann zog er es vor, seiner moralischen Kraft erst mit einer physischen Stärkung nachzuhelfen, und sorgte dafür, daß ein mäßiges Fäßchen voll weißem Terlaner, dem er am meisten begeisternde Wirkungen zuschrieb, im Keller seines Hauses niemals ganz versiegte. Heute nun, da er von einem Krankenbesuch im Dorf Algund ohne Labung zurückkehren mußte, war er keiner starken Prüfung gewachsen und erschrak aufs Heftigste, als plötzlich dicht neben ihm eine dunkle Gestalt hoch von der Weinbergsmauer herabsprang und auf ihn zustürzend seine Hand ergriff.
Gelobt sei Jesus Christus! sagte er, am ganzen Leibe zitternd.
In Ewigkeit! antwortete der Bursch.
Du bist's, Andree, mein Sohn? Hab' ich doch gemeint, der böse Feind komme mir mit Macht über den Hals, der ja im Weinberge des Herrn herumschleicht, zu sehen, wen er verschlinge. Nun, nun,
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/12>, abgerufen am 16.07.2024. |