Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.und die erwachende Seele sich der Welt und ihrer selbst besann, quollen große Thränen hervor, und an seine Schulter gelehnt weinte sie, ohne ein Wort hervorzubringen, die Erschütterung aus. Er hielt sie, ebenfalls stumm, mit aufathmendem Herzen an sich gedrückt und horchte auf den wogenden Ton des Geläuts, verworrene Gebete bei sich selbst hersagend. Als die Glocken ausgeklungen hatten, griff er nach dem Krug und reichte ihn ihr. Sie näherte ihm die Lippen, wie eine Kranke, die das Gefäß nicht selbst zu halten sich getraut, und trank einen langen Zug. Dann schloß sie die Augen, ohne sie zu trocknen, und schlief neben ihm ein, immer noch auf den Knieen und die Hände unbeweglich gefaltet. Als er sie nach einer Weile ruhig athmen hörte, hob er sie auf und legte sie bequem auf dem abhängigen Boden nieder, seine Jacke unter ihren Kopf schiebend, ohne daß sie erwacht wäre. Er selbst nach einem raschen Umblick in seinem Revier, lagerte sich neben ihr, den Kopf in die Hand gestützt, und starrte ihr in das schlafende Gesicht, das nun ganz friedlich wie aus heiteren Träumen lächelte. Wenn ein Blatt sich bewegte und dann das Licht flüchtig aus ihrer Stirn spielte, seufzte sie wohl noch leise nach. Aber ihr war wohl, während es in ihm von dunklen Schmerzen und schweren Entschlüssen gewaltsam gährte und jeder Blick in diese friedlichen Züge ihm neue Nahrung für seine Qualen eintrug. und die erwachende Seele sich der Welt und ihrer selbst besann, quollen große Thränen hervor, und an seine Schulter gelehnt weinte sie, ohne ein Wort hervorzubringen, die Erschütterung aus. Er hielt sie, ebenfalls stumm, mit aufathmendem Herzen an sich gedrückt und horchte auf den wogenden Ton des Geläuts, verworrene Gebete bei sich selbst hersagend. Als die Glocken ausgeklungen hatten, griff er nach dem Krug und reichte ihn ihr. Sie näherte ihm die Lippen, wie eine Kranke, die das Gefäß nicht selbst zu halten sich getraut, und trank einen langen Zug. Dann schloß sie die Augen, ohne sie zu trocknen, und schlief neben ihm ein, immer noch auf den Knieen und die Hände unbeweglich gefaltet. Als er sie nach einer Weile ruhig athmen hörte, hob er sie auf und legte sie bequem auf dem abhängigen Boden nieder, seine Jacke unter ihren Kopf schiebend, ohne daß sie erwacht wäre. Er selbst nach einem raschen Umblick in seinem Revier, lagerte sich neben ihr, den Kopf in die Hand gestützt, und starrte ihr in das schlafende Gesicht, das nun ganz friedlich wie aus heiteren Träumen lächelte. Wenn ein Blatt sich bewegte und dann das Licht flüchtig aus ihrer Stirn spielte, seufzte sie wohl noch leise nach. Aber ihr war wohl, während es in ihm von dunklen Schmerzen und schweren Entschlüssen gewaltsam gährte und jeder Blick in diese friedlichen Züge ihm neue Nahrung für seine Qualen eintrug. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0027"/> und die erwachende Seele sich der Welt und ihrer selbst besann, quollen große Thränen hervor, und an seine Schulter gelehnt weinte sie, ohne ein Wort hervorzubringen, die Erschütterung aus.</p><lb/> <p>Er hielt sie, ebenfalls stumm, mit aufathmendem Herzen an sich gedrückt und horchte auf den wogenden Ton des Geläuts, verworrene Gebete bei sich selbst hersagend. Als die Glocken ausgeklungen hatten, griff er nach dem Krug und reichte ihn ihr. Sie näherte ihm die Lippen, wie eine Kranke, die das Gefäß nicht selbst zu halten sich getraut, und trank einen langen Zug. Dann schloß sie die Augen, ohne sie zu trocknen, und schlief neben ihm ein, immer noch auf den Knieen und die Hände unbeweglich gefaltet.</p><lb/> <p>Als er sie nach einer Weile ruhig athmen hörte, hob er sie auf und legte sie bequem auf dem abhängigen Boden nieder, seine Jacke unter ihren Kopf schiebend, ohne daß sie erwacht wäre. Er selbst nach einem raschen Umblick in seinem Revier, lagerte sich neben ihr, den Kopf in die Hand gestützt, und starrte ihr in das schlafende Gesicht, das nun ganz friedlich wie aus heiteren Träumen lächelte. Wenn ein Blatt sich bewegte und dann das Licht flüchtig aus ihrer Stirn spielte, seufzte sie wohl noch leise nach. Aber ihr war wohl, während es in ihm von dunklen Schmerzen und schweren Entschlüssen gewaltsam gährte und jeder Blick in diese friedlichen Züge ihm neue Nahrung für seine Qualen eintrug.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0027]
und die erwachende Seele sich der Welt und ihrer selbst besann, quollen große Thränen hervor, und an seine Schulter gelehnt weinte sie, ohne ein Wort hervorzubringen, die Erschütterung aus.
Er hielt sie, ebenfalls stumm, mit aufathmendem Herzen an sich gedrückt und horchte auf den wogenden Ton des Geläuts, verworrene Gebete bei sich selbst hersagend. Als die Glocken ausgeklungen hatten, griff er nach dem Krug und reichte ihn ihr. Sie näherte ihm die Lippen, wie eine Kranke, die das Gefäß nicht selbst zu halten sich getraut, und trank einen langen Zug. Dann schloß sie die Augen, ohne sie zu trocknen, und schlief neben ihm ein, immer noch auf den Knieen und die Hände unbeweglich gefaltet.
Als er sie nach einer Weile ruhig athmen hörte, hob er sie auf und legte sie bequem auf dem abhängigen Boden nieder, seine Jacke unter ihren Kopf schiebend, ohne daß sie erwacht wäre. Er selbst nach einem raschen Umblick in seinem Revier, lagerte sich neben ihr, den Kopf in die Hand gestützt, und starrte ihr in das schlafende Gesicht, das nun ganz friedlich wie aus heiteren Träumen lächelte. Wenn ein Blatt sich bewegte und dann das Licht flüchtig aus ihrer Stirn spielte, seufzte sie wohl noch leise nach. Aber ihr war wohl, während es in ihm von dunklen Schmerzen und schweren Entschlüssen gewaltsam gährte und jeder Blick in diese friedlichen Züge ihm neue Nahrung für seine Qualen eintrug.
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