Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.französischen Erzähler und in noch höherem Grade dem russischen Meister der Seelenkunde, Iwan Turgenjew, in so bewundernswerthem Maße zu Gebote stehen. Der Dichter, der uns in die geheimnißvollsten Gemüthstiefen seltener oder doch sehr entschieden ausgeprägter Individuen blicken läßt, wird, um uns in volle Illusion zu bringen, andere Töne anschlagen müssen, als wer uns von einem geraubten und unter Zigeunern wiedergefundenen Kinde erzählt, in dessen Geschick die abenteuerliche Verwicklung und Lösung äußerer Umstände das Hauptinteresse bildet. Bei jenen höchst modernen Aufgaben ist eine dramatische Unmittelbarkeit berechtigt, eine gesteigerte Schärfe der Naturlaute, ein gewisser nervöser, herzklopfender Stil, die mit der oben gerühmten epischen Ruhe im äußersten Gegensatz stehen. Und freilich ist diese, wie jede Virtuosität, auch sehr der Gefahr ausgesetzt, die Mittel zum Zweck zu machen und über dem Reiz, mit der Schwierigkeit der Form zu spielen, den Sinn für den Werth des Ganzen einzubüßen. Auch der Erzähler dürfte nie vergessen, daß, wie bloße Farbeneffecte noch kein Bild machen, ein noch so geistreiches Spiel mit zerflatternden Motiven keine Geschichte ergibt, die unserer Phantasie eingegraben bleibt, und daß auch in diesem Gebiet "groß sein heißt, nicht ohne großen Gegenstand sich regen." Denn wie sehr auch die kleinste Form großer französischen Erzähler und in noch höherem Grade dem russischen Meister der Seelenkunde, Iwan Turgenjew, in so bewundernswerthem Maße zu Gebote stehen. Der Dichter, der uns in die geheimnißvollsten Gemüthstiefen seltener oder doch sehr entschieden ausgeprägter Individuen blicken läßt, wird, um uns in volle Illusion zu bringen, andere Töne anschlagen müssen, als wer uns von einem geraubten und unter Zigeunern wiedergefundenen Kinde erzählt, in dessen Geschick die abenteuerliche Verwicklung und Lösung äußerer Umstände das Hauptinteresse bildet. Bei jenen höchst modernen Aufgaben ist eine dramatische Unmittelbarkeit berechtigt, eine gesteigerte Schärfe der Naturlaute, ein gewisser nervöser, herzklopfender Stil, die mit der oben gerühmten epischen Ruhe im äußersten Gegensatz stehen. Und freilich ist diese, wie jede Virtuosität, auch sehr der Gefahr ausgesetzt, die Mittel zum Zweck zu machen und über dem Reiz, mit der Schwierigkeit der Form zu spielen, den Sinn für den Werth des Ganzen einzubüßen. Auch der Erzähler dürfte nie vergessen, daß, wie bloße Farbeneffecte noch kein Bild machen, ein noch so geistreiches Spiel mit zerflatternden Motiven keine Geschichte ergibt, die unserer Phantasie eingegraben bleibt, und daß auch in diesem Gebiet „groß sein heißt, nicht ohne großen Gegenstand sich regen.“ Denn wie sehr auch die kleinste Form großer <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0016" n="XVI"/> französischen Erzähler und in noch höherem Grade dem russischen Meister der Seelenkunde, <hi rendition="#g">Iwan Turgenjew</hi>, in so bewundernswerthem Maße zu Gebote stehen. Der Dichter, der uns in die geheimnißvollsten Gemüthstiefen seltener oder doch sehr entschieden ausgeprägter Individuen blicken läßt, wird, um uns in volle Illusion zu bringen, andere Töne anschlagen müssen, als wer uns von einem geraubten und unter Zigeunern wiedergefundenen Kinde erzählt, in dessen Geschick die abenteuerliche Verwicklung und Lösung <hi rendition="#g">äußerer</hi> Umstände das Hauptinteresse bildet. Bei jenen höchst modernen Aufgaben ist eine dramatische Unmittelbarkeit berechtigt, eine gesteigerte Schärfe der Naturlaute, ein gewisser nervöser, herzklopfender Stil, die mit der oben gerühmten epischen Ruhe im äußersten Gegensatz stehen.</p> <p>Und freilich ist diese, wie jede Virtuosität, auch sehr der Gefahr ausgesetzt, die Mittel zum Zweck zu machen und über dem Reiz, mit der Schwierigkeit der Form zu spielen, den Sinn für den Werth des Ganzen einzubüßen. Auch der Erzähler dürfte nie vergessen, daß, wie bloße Farbeneffecte noch kein Bild machen, ein noch so geistreiches Spiel mit zerflatternden Motiven keine <hi rendition="#g">Geschichte</hi> ergibt, die unserer Phantasie eingegraben bleibt, und daß auch in diesem Gebiet „groß sein heißt, nicht ohne großen Gegenstand sich regen.“</p> <p>Denn wie sehr auch die kleinste Form großer<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [XVI/0016]
französischen Erzähler und in noch höherem Grade dem russischen Meister der Seelenkunde, Iwan Turgenjew, in so bewundernswerthem Maße zu Gebote stehen. Der Dichter, der uns in die geheimnißvollsten Gemüthstiefen seltener oder doch sehr entschieden ausgeprägter Individuen blicken läßt, wird, um uns in volle Illusion zu bringen, andere Töne anschlagen müssen, als wer uns von einem geraubten und unter Zigeunern wiedergefundenen Kinde erzählt, in dessen Geschick die abenteuerliche Verwicklung und Lösung äußerer Umstände das Hauptinteresse bildet. Bei jenen höchst modernen Aufgaben ist eine dramatische Unmittelbarkeit berechtigt, eine gesteigerte Schärfe der Naturlaute, ein gewisser nervöser, herzklopfender Stil, die mit der oben gerühmten epischen Ruhe im äußersten Gegensatz stehen.
Und freilich ist diese, wie jede Virtuosität, auch sehr der Gefahr ausgesetzt, die Mittel zum Zweck zu machen und über dem Reiz, mit der Schwierigkeit der Form zu spielen, den Sinn für den Werth des Ganzen einzubüßen. Auch der Erzähler dürfte nie vergessen, daß, wie bloße Farbeneffecte noch kein Bild machen, ein noch so geistreiches Spiel mit zerflatternden Motiven keine Geschichte ergibt, die unserer Phantasie eingegraben bleibt, und daß auch in diesem Gebiet „groß sein heißt, nicht ohne großen Gegenstand sich regen.“
Denn wie sehr auch die kleinste Form großer
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. XVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heysekurz_einleitung_1871/16>, abgerufen am 16.07.2024. |