Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hilty, Carl: Frauenstimmrecht. In: Hilty, Carl (Hg.): Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Bern, 1897.

Bild:
<< vorherige Seite

Frauenstimmrecht.
hielten, ist ein noch grösseres Exempel. Auch in heutiger
Zeit wäre der Sozialismus in Deutschland kaum entstanden,
geschweige denn mächtig geworden ohne das allgemeine Stimm-
recht, und ohne dasselbe würde er sieh heute noch bald wieder
verlieren1). Die Freiheit besteht wesentlich darin, dass man
an der Gesetzgebung Theil nimmt, alles Andere ist eine Ge-
währung von Rechten, die auf dem guten Willen eines Dritten
beruht und desshalb eine sehr zweifelhafte Errungenschaft. Wir
betrachten also unsererseits das Frauenstimmrecht als
den praktischen Kern der Frauenfrage.

II.

Das Stimmrecht des weiblichen Geschlechts ist in allen
civilisirten Staaten, in denen überhaupt irgend eine Be-
theiligung der gesammten Bevölkerung an der Gesetzgebung
und Verwaltung des Staates stattfindet, die weitaus grösste
der noch zur Lösung ausstehenden Staatsfragen. Denn damit
allein wird einerseits das sogenannte "allgemeine Stimm-
recht" aus einer täuschenden Redensart2) zu einer Wahrheit,
indem dann wirklich die gesammte staatsbürgerliche Be-
völkerung erwachsenen Alters (mit Ausnahme geringer Bruch-
theile, wie etwa der kriminell Verurtheilten, oder sonst
nicht ehrenfähigen, oder nicht selbständig handlungsfähigen
Personen) daran Theil nimmt. Andererseits würde damit die

1) Das völlige Aufhören der ebenso grossen Chartisten-Bewegung
der vierziger Jahre in England ist ein praktisches Beispiel dafür. Hätte
damals ein allgemeines Wahlrecht in England bestanden, das noch
heute nicht besteht, oder gar ein Abstimmungsrecht über Verfassung
und Gesetzgebung in der Weise des schweizerischen, so würden sich
die englischen Verhältnisse ganz anders entwickelt haben.
2) Jetzt sind, wo "allgemeines" Stimmrecht besteht, dennoch
von 100 Einwohnern bloss etwa 22 stimmberechtigt.

Frauenstimmrecht.
hielten, ist ein noch grösseres Exempel. Auch in heutiger
Zeit wäre der Sozialismus in Deutschland kаum entstanden,
geschweige denn mächtig geworden ohne das allgemeine Stimm-
recht, und ohne dasselbe würde er sieh heute noch bald wieder
verlieren1). Die Freiheit besteht wesentlich darin, dass man
an der Gesetzgebung Theil nimmt, alles Andere ist eine Ge-
währung von Rechten, die auf dem guten Willen eines Dritten
beruht und desshalb eine sehr zweifelhafte Errungenschaft. Wir
betrachten also unsererseits das Frauenstimmrecht als
den praktischen Kern der Frauenfrage.

II.

Das Stimmrecht des weiblichen Geschlechts ist in allen
civilisirten Staaten, in denen überhaupt irgend eine Be-
theiligung der gesammten Bevölkerung an der Gesetzgebung
und Verwaltung des Staates stattfindet, die weitaus grösste
der noch zur Lösung ausstehenden Staatsfragen. Denn damit
allein wird einerseits das sogenannte «allgemeine Stimm-
recht» aus einer täuschenden Redensart2) zu einer Wahrheit,
indem dann wirklich die gesammte staatsbürgerliche Be-
völkerung erwachsenen Alters (mit Ausnahme geringer Bruch-
theile, wie etwa der kriminell Verurtheilten, oder sonst
nicht ehrenfähigen, oder nicht selbständig handlungsfähigen
Personen) daran Theil nimmt. Andererseits würde damit die

1) Das völlige Aufhören der ebenso grossen Chartisten-Bewegung
der vierziger Jahre in England ist ein praktisches Beispiel dafür. Hätte
damals ein allgemeines Wahlrecht in England bestanden, das noch
heute nicht besteht, oder gar ein Abstimmungsrecht über Verfassung
und Gesetzgebung in der Weise des schweizerischen, so würden sich
die englischen Verhältnisse ganz anders entwickelt haben.
2) Jetzt sind, wo «allgemeines» Stimmrecht besteht, dennoch
von 100 Einwohnern bloss etwa 22 stimmberechtigt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0016" n="256"/><fw place="top" type="header">Frauenstimmrecht.</fw>
 hielten, ist ein noch grösseres Exempel. Auch in heutiger<lb/>
Zeit wäre der Sozialismus in Deutschland k&#x0430;um entstanden,<lb/>
geschweige denn mächtig geworden ohne das allgemeine Stimm-<lb/>
recht, und ohne dasselbe würde er sieh heute noch bald wieder<lb/>
verlieren<note place="foot" n="1)">Das völlige Aufhören der ebenso grossen Chartisten-Bewegung<lb/>
der vierziger Jahre in England ist ein praktisches Beispiel dafür. Hätte<lb/>
damals ein allgemeines Wahlrecht in England bestanden, das noch<lb/>
heute nicht besteht, oder gar ein Abstimmungsrecht über Verfassung<lb/>
und Gesetzgebung in der Weise des schweizerischen, so würden sich<lb/>
die englischen Verhältnisse ganz anders entwickelt haben.</note>. Die Freiheit besteht wesentlich darin, dass man<lb/>
an der Gesetzgebung Theil nimmt, alles Andere ist eine Ge-<lb/>
währung von Rechten, die auf dem guten Willen eines Dritten<lb/>
beruht und desshalb eine sehr zweifelhafte Errungenschaft. Wir<lb/>
betrachten also unsererseits das Frauen<hi rendition="#g">stimmrecht</hi> als<lb/>
den praktischen Kern der Frauenfrage.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>II.</head><lb/>
          <p>Das Stimmrecht des weiblichen Geschlechts ist in allen<lb/>
civilisirten Staaten, in denen überhaupt irgend eine Be-<lb/>
theiligung der gesammten Bevölkerung an der Gesetzgebung<lb/>
und Verwaltung des Staates stattfindet, die weitaus <hi rendition="#g">grösste</hi><lb/>
der noch zur Lösung ausstehenden Staatsfragen. Denn damit<lb/>
allein wird einerseits das sogenannte «allgemeine Stimm-<lb/>
recht» aus einer täuschenden Redensart<note place="foot" n="2)">Jetzt sind, wo «allgemeines» Stimmrecht <hi rendition="#g">besteht</hi>, dennoch<lb/>
von 100 Einwohnern bloss etwa 22 stimmberechtigt.</note> zu einer Wahrheit,<lb/>
indem dann wirklich die gesammte staatsbürgerliche Be-<lb/>
völkerung erwachsenen Alters (mit Ausnahme geringer Bruch-<lb/>
theile, wie etwa der kriminell Verurtheilten, oder sonst<lb/>
nicht ehrenfähigen, oder nicht selbständig handlungsfähigen<lb/>
Personen) daran Theil nimmt. Andererseits würde damit die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[256/0016] Frauenstimmrecht. hielten, ist ein noch grösseres Exempel. Auch in heutiger Zeit wäre der Sozialismus in Deutschland kаum entstanden, geschweige denn mächtig geworden ohne das allgemeine Stimm- recht, und ohne dasselbe würde er sieh heute noch bald wieder verlieren 1). Die Freiheit besteht wesentlich darin, dass man an der Gesetzgebung Theil nimmt, alles Andere ist eine Ge- währung von Rechten, die auf dem guten Willen eines Dritten beruht und desshalb eine sehr zweifelhafte Errungenschaft. Wir betrachten also unsererseits das Frauenstimmrecht als den praktischen Kern der Frauenfrage. II. Das Stimmrecht des weiblichen Geschlechts ist in allen civilisirten Staaten, in denen überhaupt irgend eine Be- theiligung der gesammten Bevölkerung an der Gesetzgebung und Verwaltung des Staates stattfindet, die weitaus grösste der noch zur Lösung ausstehenden Staatsfragen. Denn damit allein wird einerseits das sogenannte «allgemeine Stimm- recht» aus einer täuschenden Redensart 2) zu einer Wahrheit, indem dann wirklich die gesammte staatsbürgerliche Be- völkerung erwachsenen Alters (mit Ausnahme geringer Bruch- theile, wie etwa der kriminell Verurtheilten, oder sonst nicht ehrenfähigen, oder nicht selbständig handlungsfähigen Personen) daran Theil nimmt. Andererseits würde damit die 1) Das völlige Aufhören der ebenso grossen Chartisten-Bewegung der vierziger Jahre in England ist ein praktisches Beispiel dafür. Hätte damals ein allgemeines Wahlrecht in England bestanden, das noch heute nicht besteht, oder gar ein Abstimmungsrecht über Verfassung und Gesetzgebung in der Weise des schweizerischen, so würden sich die englischen Verhältnisse ganz anders entwickelt haben. 2) Jetzt sind, wo «allgemeines» Stimmrecht besteht, dennoch von 100 Einwohnern bloss etwa 22 stimmberechtigt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/Kassel: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-12T09:45:20Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Thomas Gloning, Melanie Henß: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-07-12T09:45:20Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate. (2013-07-12T09:45:20Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet
  • Druckfehler: ignoriert
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • Geminations-/Abkürzungsstriche: expandiert, markiert
  • Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet
  • Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet
  • Kustoden: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hilty_frauenstimmrecht_1897
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hilty_frauenstimmrecht_1897/16
Zitationshilfe: Hilty, Carl: Frauenstimmrecht. In: Hilty, Carl (Hg.): Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Bern, 1897, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilty_frauenstimmrecht_1897/16>, abgerufen am 21.11.2024.