Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778.
Ein Genie -- stößt mich fort, ein Philosoph leitet mich. Unsere Kinder werden sehen und hören, was wir in Teutschland noch nicht sahen, noch nicht hörten -- Ich. Der liebe Gott verleih uns Aug und Ohr an Leib und Seele. Herr v. G. Und bescher uns auch was zu hören und zu sehen, mit Leib und Seele. Vater. Wüßt' ich, daß meine Erwar- tungen mich nicht trügen, ich würde wie Simeon sagen: Herr, nun läßest du deinen Diener in Frieden fahren! -- Herr v. G. Ich auch, obgleich ich eigent- lich kein Diener Gottes, sondern des lieben Gottes Fröhner bin -- Wißen Sie, Pastor, was ich mir für Begriffe von Vernunft und Verstand mache? Vernunft ist major, Ver- stand ist minor, bey der Conclusio gehn Ver- stand und Vernunft paarweise. Vater. Ich hab nichts dawider. Ver- stand urtheilt, Vernunft schließt. Vernunft ist Urtheil a priori, Verstand a posteriori. Ich. Auf die Art ist Vernunft grob Geld, Verstand klein Geld. -- Herr v. G. Was ist das aber für ein Ding, wodurch man heilige und unheilige Scriben- ten auslegt? -- kann mans Witz nennen? Vater. B b 3
Ein Genie — ſtoͤßt mich fort, ein Philoſoph leitet mich. Unſere Kinder werden ſehen und hoͤren, was wir in Teutſchland noch nicht ſahen, noch nicht hoͤrten — Ich. Der liebe Gott verleih uns Aug und Ohr an Leib und Seele. Herr v. G. Und beſcher uns auch was zu hoͤren und zu ſehen, mit Leib und Seele. Vater. Wuͤßt’ ich, daß meine Erwar- tungen mich nicht truͤgen, ich wuͤrde wie Simeon ſagen: Herr, nun laͤßeſt du deinen Diener in Frieden fahren! — Herr v. G. Ich auch, obgleich ich eigent- lich kein Diener Gottes, ſondern des lieben Gottes Froͤhner bin — Wißen Sie, Paſtor, was ich mir fuͤr Begriffe von Vernunft und Verſtand mache? Vernunft iſt major, Ver- ſtand iſt minor, bey der Concluſio gehn Ver- ſtand und Vernunft paarweiſe. Vater. Ich hab nichts dawider. Ver- ſtand urtheilt, Vernunft ſchließt. Vernunft iſt Urtheil a priori, Verſtand a poſteriori. Ich. Auf die Art iſt Vernunft grob Geld, Verſtand klein Geld. — Herr v. G. Was iſt das aber fuͤr ein Ding, wodurch man heilige und unheilige Scriben- ten auslegt? — kann mans Witz nennen? Vater. B b 3
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Ein Genie — ſtoͤßt mich fort, ein Philoſoph
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ſahen, noch nicht hoͤrten —
Ich. Der liebe Gott verleih uns Aug und
Ohr an Leib und Seele.
Herr v. G. Und beſcher uns auch was zu
hoͤren und zu ſehen, mit Leib und Seele.
Vater. Wuͤßt’ ich, daß meine Erwar-
tungen mich nicht truͤgen, ich wuͤrde wie
Simeon ſagen: Herr, nun laͤßeſt du deinen
Diener in Frieden fahren! —
Herr v. G. Ich auch, obgleich ich eigent-
lich kein Diener Gottes, ſondern des lieben
Gottes Froͤhner bin — Wißen Sie, Paſtor,
was ich mir fuͤr Begriffe von Vernunft und
Verſtand mache? Vernunft iſt major, Ver-
ſtand iſt minor, bey der Concluſio gehn Ver-
ſtand und Vernunft paarweiſe.
Vater. Ich hab nichts dawider. Ver-
ſtand urtheilt, Vernunft ſchließt. Vernunft
iſt Urtheil a priori, Verſtand a poſteriori.
Ich. Auf die Art iſt Vernunft grob Geld,
Verſtand klein Geld. —
Herr v. G. Was iſt das aber fuͤr ein Ding,
wodurch man heilige und unheilige Scriben-
ten auslegt? — kann mans Witz nennen?
Vater.
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Zitationshilfe: | Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe01_1778/399>, abgerufen am 29.06.2024. |