Was weint ihr, Kinder? Ihr habt nur einen Theil verloren, und einen Theil habt ihr noch. Eine gute Mutter -- wischt ihr die Thränen. Pflegt sie, damit sie nicht auch krank werde, wie er war, und ihr es nicht am Ende selbst von Gott bitten müßt: ach, wenn sie doch nur stürbe! wer kann sie ringen sehn? wer? wer kann sie wimmern hören? Ach wenn sie doch nur stürbe! Dann müßtet ihr weinen, wenn ihr daran Schuld hättet, daß ihr so beten müßtet; jetzt weint nicht!
Mich! mich laßt weinen, lieben Leut- lein! laßt mich! mich! laßt weinen! Ich hab meinen Bruder verloren, den einzigen, den ich hatte, und was hab' ich von ihm be- halten? Zwar auch was, aber was? Einen Baum am väterlichen Hause, den unser gute Vater an dem Tage pflanzte, da unsre Mut- ter zu ihm sagte: es geht unter meinem Her- zen auf. Der Vater pflanzte den Baum, und Caspar und der Baum waren Jahreskinder. Der Vater nannte sie beyde Caspar, den Sohn Caspar, den Baum Caspar. Der Baum steht und blüht und ist immer Kerngesund. Sein Milchbruder todt! Das ist nicht tröst- lich, ärgerlich ists! Der Baum Caspar steht, der Bruder Casper stirbt; aber auch ich finde
mich
O o 2
Was weint ihr, Kinder? Ihr habt nur einen Theil verloren, und einen Theil habt ihr noch. Eine gute Mutter — wiſcht ihr die Thraͤnen. Pflegt ſie, damit ſie nicht auch krank werde, wie er war, und ihr es nicht am Ende ſelbſt von Gott bitten muͤßt: ach, wenn ſie doch nur ſtuͤrbe! wer kann ſie ringen ſehn? wer? wer kann ſie wimmern hoͤren? Ach wenn ſie doch nur ſtuͤrbe! Dann muͤßtet ihr weinen, wenn ihr daran Schuld haͤttet, daß ihr ſo beten muͤßtet; jetzt weint nicht!
Mich! mich laßt weinen, lieben Leut- lein! laßt mich! mich! laßt weinen! Ich hab meinen Bruder verloren, den einzigen, den ich hatte, und was hab’ ich von ihm be- halten? Zwar auch was, aber was? Einen Baum am vaͤterlichen Hauſe, den unſer gute Vater an dem Tage pflanzte, da unſre Mut- ter zu ihm ſagte: es geht unter meinem Her- zen auf. Der Vater pflanzte den Baum, und Caſpar und der Baum waren Jahreskinder. Der Vater nannte ſie beyde Caſpar, den Sohn Caſpar, den Baum Caſpar. Der Baum ſteht und bluͤht und iſt immer Kerngeſund. Sein Milchbruder todt! Das iſt nicht troͤſt- lich, aͤrgerlich iſts! Der Baum Caſpar ſteht, der Bruder Caſper ſtirbt; aber auch ich finde
mich
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Was weint ihr, Kinder? Ihr habt nur
einen Theil verloren, und einen Theil habt
ihr noch. Eine gute Mutter — wiſcht ihr
die Thraͤnen. Pflegt ſie, damit ſie nicht auch
krank werde, wie er war, und ihr es nicht
am Ende ſelbſt von Gott bitten muͤßt: ach,
wenn ſie doch nur ſtuͤrbe! wer kann ſie ringen
ſehn? wer? wer kann ſie wimmern hoͤren?
Ach wenn ſie doch nur ſtuͤrbe! Dann muͤßtet
ihr weinen, wenn ihr daran Schuld haͤttet,
daß ihr ſo beten muͤßtet; jetzt weint nicht!
Mich! mich laßt weinen, lieben Leut-
lein! laßt mich! mich! laßt weinen! Ich
hab meinen Bruder verloren, den einzigen,
den ich hatte, und was hab’ ich von ihm be-
halten? Zwar auch was, aber was? Einen
Baum am vaͤterlichen Hauſe, den unſer gute
Vater an dem Tage pflanzte, da unſre Mut-
ter zu ihm ſagte: es geht unter meinem Her-
zen auf. Der Vater pflanzte den Baum, und
Caſpar und der Baum waren Jahreskinder.
Der Vater nannte ſie beyde Caſpar, den Sohn
Caſpar, den Baum Caſpar. Der Baum
ſteht und bluͤht und iſt immer Kerngeſund.
Sein Milchbruder todt! Das iſt nicht troͤſt-
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/591>, abgerufen am 22.11.2024.
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