Weisen! da ihr selbst nicht leugnen könnet, Weisheit aus dem Volk und aus dem Volks- buch, aus der Bibel, geschöpft zu haben, warum gebt ihr nicht verständlich wieder, was ihr verständlich empfienget, und was ists denn, was euch selbst zustehet? Der Christ weiß, an wen er glaubet. Von diesem Glau- ben des Christen hat der Nichtchrist keine Vorstellung. Es ist ein lebendiger, ein wis- sender Glaube. Gott sandte uns nicht ein Buch herab, voll Worte und Meynungen, fein sauber geschrieben. Unsere Vorfahren waren Geisterseher; allein wir? wir sahen Christum, den Anfänger und Vollender un- sers Glaubens. Hier ist Sache, That, Be- gebenheit, Wahrheit. Er war zwar Mensch; allein Gottmensch. Man sah' ihn, und wir sehen ihn noch in Begebenheiten mancherley Art. Sein Geist blieb bey uns! -- Chri- stus lies sich nicht mahlen; denn da hätte man nur eine Stellung von ihm gehabt; son- dern er ward gebohren, lebte, lehrte, starb! -- Er lehrte durch Thaten, er lebte durch Leh- ren! -- Was von seinem Leben geschrieben worden, ist auch Leben. Einfalt ist die Art, womit alles behandelt wird; allein Einfalt ist die ächte Tochter alles Guten, alles Wahren,
alles
Weiſen! da ihr ſelbſt nicht leugnen koͤnnet, Weisheit aus dem Volk und aus dem Volks- buch, aus der Bibel, geſchoͤpft zu haben, warum gebt ihr nicht verſtaͤndlich wieder, was ihr verſtaͤndlich empfienget, und was iſts denn, was euch ſelbſt zuſtehet? Der Chriſt weiß, an wen er glaubet. Von dieſem Glau- ben des Chriſten hat der Nichtchriſt keine Vorſtellung. Es iſt ein lebendiger, ein wiſ- ſender Glaube. Gott ſandte uns nicht ein Buch herab, voll Worte und Meynungen, fein ſauber geſchrieben. Unſere Vorfahren waren Geiſterſeher; allein wir? wir ſahen Chriſtum, den Anfaͤnger und Vollender un- ſers Glaubens. Hier iſt Sache, That, Be- gebenheit, Wahrheit. Er war zwar Menſch; allein Gottmenſch. Man ſah’ ihn, und wir ſehen ihn noch in Begebenheiten mancherley Art. Sein Geiſt blieb bey uns! — Chri- ſtus lies ſich nicht mahlen; denn da haͤtte man nur eine Stellung von ihm gehabt; ſon- dern er ward gebohren, lebte, lehrte, ſtarb! — Er lehrte durch Thaten, er lebte durch Leh- ren! — Was von ſeinem Leben geſchrieben worden, iſt auch Leben. Einfalt iſt die Art, womit alles behandelt wird; allein Einfalt iſt die aͤchte Tochter alles Guten, alles Wahren,
alles
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0229"n="223"/>
Weiſen! da ihr ſelbſt nicht leugnen koͤnnet,<lb/>
Weisheit aus dem Volk und aus dem Volks-<lb/>
buch, aus der Bibel, geſchoͤpft zu haben,<lb/>
warum gebt ihr nicht verſtaͤndlich wieder, was<lb/>
ihr verſtaͤndlich empfienget, und was iſts<lb/>
denn, was euch ſelbſt zuſtehet? Der Chriſt<lb/>
weiß, an wen er glaubet. Von dieſem Glau-<lb/>
ben des Chriſten hat der Nichtchriſt keine<lb/>
Vorſtellung. Es iſt ein lebendiger, ein wiſ-<lb/>ſender Glaube. Gott ſandte uns nicht ein<lb/>
Buch herab, voll Worte und Meynungen,<lb/>
fein ſauber geſchrieben. Unſere Vorfahren<lb/>
waren Geiſterſeher; allein wir? wir ſahen<lb/>
Chriſtum, den Anfaͤnger und Vollender un-<lb/>ſers Glaubens. Hier iſt Sache, That, Be-<lb/>
gebenheit, Wahrheit. Er war zwar Menſch;<lb/>
allein Gottmenſch. Man ſah’ ihn, und wir<lb/>ſehen ihn noch in Begebenheiten mancherley<lb/>
Art. Sein Geiſt blieb bey uns! — Chri-<lb/>ſtus lies ſich nicht mahlen; denn da haͤtte<lb/>
man nur eine Stellung von ihm gehabt; ſon-<lb/>
dern er ward gebohren, lebte, lehrte, ſtarb! —<lb/>
Er lehrte durch Thaten, er lebte durch Leh-<lb/>
ren! — Was von ſeinem Leben geſchrieben<lb/>
worden, iſt auch Leben. Einfalt iſt die Art,<lb/>
womit alles behandelt wird; allein Einfalt iſt<lb/>
die aͤchte Tochter alles Guten, alles Wahren,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">alles</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[223/0229]
Weiſen! da ihr ſelbſt nicht leugnen koͤnnet,
Weisheit aus dem Volk und aus dem Volks-
buch, aus der Bibel, geſchoͤpft zu haben,
warum gebt ihr nicht verſtaͤndlich wieder, was
ihr verſtaͤndlich empfienget, und was iſts
denn, was euch ſelbſt zuſtehet? Der Chriſt
weiß, an wen er glaubet. Von dieſem Glau-
ben des Chriſten hat der Nichtchriſt keine
Vorſtellung. Es iſt ein lebendiger, ein wiſ-
ſender Glaube. Gott ſandte uns nicht ein
Buch herab, voll Worte und Meynungen,
fein ſauber geſchrieben. Unſere Vorfahren
waren Geiſterſeher; allein wir? wir ſahen
Chriſtum, den Anfaͤnger und Vollender un-
ſers Glaubens. Hier iſt Sache, That, Be-
gebenheit, Wahrheit. Er war zwar Menſch;
allein Gottmenſch. Man ſah’ ihn, und wir
ſehen ihn noch in Begebenheiten mancherley
Art. Sein Geiſt blieb bey uns! — Chri-
ſtus lies ſich nicht mahlen; denn da haͤtte
man nur eine Stellung von ihm gehabt; ſon-
dern er ward gebohren, lebte, lehrte, ſtarb! —
Er lehrte durch Thaten, er lebte durch Leh-
ren! — Was von ſeinem Leben geſchrieben
worden, iſt auch Leben. Einfalt iſt die Art,
womit alles behandelt wird; allein Einfalt iſt
die aͤchte Tochter alles Guten, alles Wahren,
alles
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/229>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.