Lieben Leser! Kann ich dafür, daß ich so oft dran denken muß? Die Autorschaft könnte würklich solch ein Punkt, solch ein schwarzer Fleck seyn, auf den man im Leben und im Sterben starr hinsieht, um alles andere weit zu überwinden. -- Oft ist sie's würklich! Gretchen sagte mir gerade heraus, daß sie einen gefährlichen Eindruck befürchtete, den meine Abreise auf ihre unglückliche Mutter machen würde. Sie ist Ihnen gut, setzte sie hinzu (und ward roth, nachdem die Worte weg waren) als wären Sie Ihr Sohn.
Wenn sie nur nicht glaubt, sagte Gret- chen: es sey eine Linde ausgegangen, wenn Sie abreisen. --
Diese Befürchtungen machten eine all- mählige Entfernung von ihr vor meiner Ab- reise nothwendig. Vergessen Sie uns all und Gretchen nicht -- sagte die Lindenkran- ke, da ich Abschied von ihr nahm. Gretchen küßt' ich nicht; allein beyde Hände reichten wir uns. Ein paar Stunden vor meiner Ab- reise lies sich der Justizrath Nathanael an- melden. Wenn ich nicht mehr da wäre, lies er sagen, um meinen Schmerz nicht aufzu- bringen, nicht zu erneuern. Ich bat Gret-
chen,
Lieben Leſer! Kann ich dafuͤr, daß ich ſo oft dran denken muß? Die Autorſchaft koͤnnte wuͤrklich ſolch ein Punkt, ſolch ein ſchwarzer Fleck ſeyn, auf den man im Leben und im Sterben ſtarr hinſieht, um alles andere weit zu uͤberwinden. — Oft iſt ſie’s wuͤrklich! Gretchen ſagte mir gerade heraus, daß ſie einen gefaͤhrlichen Eindruck befuͤrchtete, den meine Abreiſe auf ihre ungluͤckliche Mutter machen wuͤrde. Sie iſt Ihnen gut, ſetzte ſie hinzu (und ward roth, nachdem die Worte weg waren) als waͤren Sie Ihr Sohn.
Wenn ſie nur nicht glaubt, ſagte Gret- chen: es ſey eine Linde ausgegangen, wenn Sie abreiſen. —
Dieſe Befuͤrchtungen machten eine all- maͤhlige Entfernung von ihr vor meiner Ab- reiſe nothwendig. Vergeſſen Sie uns all und Gretchen nicht — ſagte die Lindenkran- ke, da ich Abſchied von ihr nahm. Gretchen kuͤßt’ ich nicht; allein beyde Haͤnde reichten wir uns. Ein paar Stunden vor meiner Ab- reiſe lies ſich der Juſtizrath Nathanael an- melden. Wenn ich nicht mehr da waͤre, lies er ſagen, um meinen Schmerz nicht aufzu- bringen, nicht zu erneuern. Ich bat Gret-
chen,
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Lieben Leſer! Kann ich dafuͤr, daß ich ſo
oft dran denken muß? Die Autorſchaft koͤnnte
wuͤrklich ſolch ein Punkt, ſolch ein ſchwarzer
Fleck ſeyn, auf den man im Leben und im
Sterben ſtarr hinſieht, um alles andere weit
zu uͤberwinden. — Oft iſt ſie’s wuͤrklich!
Gretchen ſagte mir gerade heraus, daß ſie
einen gefaͤhrlichen Eindruck befuͤrchtete, den
meine Abreiſe auf ihre ungluͤckliche Mutter
machen wuͤrde. Sie iſt Ihnen gut, ſetzte ſie
hinzu (und ward roth, nachdem die Worte
weg waren) als waͤren Sie Ihr Sohn.
Wenn ſie nur nicht glaubt, ſagte Gret-
chen: es ſey eine Linde ausgegangen, wenn
Sie abreiſen. —
Dieſe Befuͤrchtungen machten eine all-
maͤhlige Entfernung von ihr vor meiner Ab-
reiſe nothwendig. Vergeſſen Sie uns all
und Gretchen nicht — ſagte die Lindenkran-
ke, da ich Abſchied von ihr nahm. Gretchen
kuͤßt’ ich nicht; allein beyde Haͤnde reichten
wir uns. Ein paar Stunden vor meiner Ab-
reiſe lies ſich der Juſtizrath Nathanael an-
melden. Wenn ich nicht mehr da waͤre, lies
er ſagen, um meinen Schmerz nicht aufzu-
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/257>, abgerufen am 23.11.2024.
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