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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

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ihre Mutter hatte im zwanzigsten geheirathet.
Diese Aufforderung blieb aus. Böse war es
hiebey nicht gemeynt; die Mütter haben ge-
meinhin die Rücksichten nicht in diesem Punkt
für ihre Töchter, die die Väter für ihre Söh-
ne haben. Gretchen machte diese verfehlte
Aufmerksamkeit ihrer sonst lieben Mutter nicht
die mindeste Sorge. Sie fiel ihr nicht einst
ein. Wenn werden denn wir, sagte Hans
ihr Geliebter, es so machen, wie dein Bruder
mit seinem Gretchen? Hans war nicht mit
seiner Liebe in der Festung; allein völlig im
Freyen war er auch nicht. Er war nicht
blos auf die Wälle eingeschränkt, sondern
konnte Sonntags und Festtags Gretchens El-
tern besuchen, Gretchen sehen, ihr verstohlen
die Hand drücken, und beym Weggehen ihr
gerades Wegs die Hand geben; bey welcher
Gelegenheit ihm aber die Hand so zitterte und
bebte, daß er sie kaum hinlangen konnte.
War niemand dabey, als Gretchen und Er,
war sie ihm fest in allen Gelenken. Es war
ein starker Hans an Leib und Seel. Gedacht
mögen die Eltern über Hansens Liebe viel ha-
ben; allein gesagt hatten sich Vater und Mut-
ter kein Wort. Unser Paar liebte sich so in-
brünstig, als man nur lieben kann, und doch

so

ihre Mutter hatte im zwanzigſten geheirathet.
Dieſe Aufforderung blieb aus. Boͤſe war es
hiebey nicht gemeynt; die Muͤtter haben ge-
meinhin die Ruͤckſichten nicht in dieſem Punkt
fuͤr ihre Toͤchter, die die Vaͤter fuͤr ihre Soͤh-
ne haben. Gretchen machte dieſe verfehlte
Aufmerkſamkeit ihrer ſonſt lieben Mutter nicht
die mindeſte Sorge. Sie fiel ihr nicht einſt
ein. Wenn werden denn wir, ſagte Hans
ihr Geliebter, es ſo machen, wie dein Bruder
mit ſeinem Gretchen? Hans war nicht mit
ſeiner Liebe in der Feſtung; allein voͤllig im
Freyen war er auch nicht. Er war nicht
blos auf die Waͤlle eingeſchraͤnkt, ſondern
konnte Sonntags und Feſttags Gretchens El-
tern beſuchen, Gretchen ſehen, ihr verſtohlen
die Hand druͤcken, und beym Weggehen ihr
gerades Wegs die Hand geben; bey welcher
Gelegenheit ihm aber die Hand ſo zitterte und
bebte, daß er ſie kaum hinlangen konnte.
War niemand dabey, als Gretchen und Er,
war ſie ihm feſt in allen Gelenken. Es war
ein ſtarker Hans an Leib und Seel. Gedacht
moͤgen die Eltern uͤber Hanſens Liebe viel ha-
ben; allein geſagt hatten ſich Vater und Mut-
ter kein Wort. Unſer Paar liebte ſich ſo in-
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[283/0289] ihre Mutter hatte im zwanzigſten geheirathet. Dieſe Aufforderung blieb aus. Boͤſe war es hiebey nicht gemeynt; die Muͤtter haben ge- meinhin die Ruͤckſichten nicht in dieſem Punkt fuͤr ihre Toͤchter, die die Vaͤter fuͤr ihre Soͤh- ne haben. Gretchen machte dieſe verfehlte Aufmerkſamkeit ihrer ſonſt lieben Mutter nicht die mindeſte Sorge. Sie fiel ihr nicht einſt ein. Wenn werden denn wir, ſagte Hans ihr Geliebter, es ſo machen, wie dein Bruder mit ſeinem Gretchen? Hans war nicht mit ſeiner Liebe in der Feſtung; allein voͤllig im Freyen war er auch nicht. Er war nicht blos auf die Waͤlle eingeſchraͤnkt, ſondern konnte Sonntags und Feſttags Gretchens El- tern beſuchen, Gretchen ſehen, ihr verſtohlen die Hand druͤcken, und beym Weggehen ihr gerades Wegs die Hand geben; bey welcher Gelegenheit ihm aber die Hand ſo zitterte und bebte, daß er ſie kaum hinlangen konnte. War niemand dabey, als Gretchen und Er, war ſie ihm feſt in allen Gelenken. Es war ein ſtarker Hans an Leib und Seel. Gedacht moͤgen die Eltern uͤber Hanſens Liebe viel ha- ben; allein geſagt hatten ſich Vater und Mut- ter kein Wort. Unſer Paar liebte ſich ſo in- bruͤnſtig, als man nur lieben kann, und doch ſo

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/289>, abgerufen am 26.11.2024.