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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781.

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wo behauptet; allein selten trauen wir der
Rede, wenn wir Temperament und Gemüths-
charakter kennen lernen wollen. Man hält
die Zunge für bestochen, für gedungen. Sie
ist höchstens ein Hauszeuge. Eben darum
der natürliche Hang zur Physiognomik. Man
will in den Augen sehen, wie dem Menschen
ums Herz ist. Freylich ists schwer, von dem
auswendigen Menschen auf den inwendigen
zu schlüßen. Ich würde weit eher aus dem
Kleide, aus dem Pferde, den Menschen beur-
theilen, als aus seinen Gesichtszügen, und
andern Schilden, die er vielleicht mit gutem
Vorbedacht aushängt, und vom besten Stadt-
mahler zeichnen läßt. Wäre hier zur Gewis-
heit zu kommen, würden die Folgen nicht eben
so gefährlich seyn, als es die von der Gewis-
heit unserer Todesstunde sind? Ich gebe
selbst zu, Gottes Finger habe ins Gesicht dem
Menschen sein Testimonium geschrieben; wer
kann aber Gottes Hand lesen? Da sie auf
Cains Stirn leserlich werden sollte, mußte
sie verständlich gemacht und mit rother Tinte
unterstrichen werden. In der nemlichen Rück-
sicht sind wir so für Handlungen, fürs entste-
hen sehen, vor unsern Augen, fürs göttliche
Sprechen, wo Donner und Blitz eins ist! --

"Eher
B 2

wo behauptet; allein ſelten trauen wir der
Rede, wenn wir Temperament und Gemuͤths-
charakter kennen lernen wollen. Man haͤlt
die Zunge fuͤr beſtochen, fuͤr gedungen. Sie
iſt hoͤchſtens ein Hauszeuge. Eben darum
der natuͤrliche Hang zur Phyſiognomik. Man
will in den Augen ſehen, wie dem Menſchen
ums Herz iſt. Freylich iſts ſchwer, von dem
auswendigen Menſchen auf den inwendigen
zu ſchluͤßen. Ich wuͤrde weit eher aus dem
Kleide, aus dem Pferde, den Menſchen beur-
theilen, als aus ſeinen Geſichtszuͤgen, und
andern Schilden, die er vielleicht mit gutem
Vorbedacht aushaͤngt, und vom beſten Stadt-
mahler zeichnen laͤßt. Waͤre hier zur Gewis-
heit zu kommen, wuͤrden die Folgen nicht eben
ſo gefaͤhrlich ſeyn, als es die von der Gewis-
heit unſerer Todesſtunde ſind? Ich gebe
ſelbſt zu, Gottes Finger habe ins Geſicht dem
Menſchen ſein Teſtimonium geſchrieben; wer
kann aber Gottes Hand leſen? Da ſie auf
Cains Stirn leſerlich werden ſollte, mußte
ſie verſtaͤndlich gemacht und mit rother Tinte
unterſtrichen werden. In der nemlichen Ruͤck-
ſicht ſind wir ſo fuͤr Handlungen, fuͤrs entſte-
hen ſehen, vor unſern Augen, fuͤrs goͤttliche
Sprechen, wo Donner und Blitz eins iſt! —

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[19/0025] wo behauptet; allein ſelten trauen wir der Rede, wenn wir Temperament und Gemuͤths- charakter kennen lernen wollen. Man haͤlt die Zunge fuͤr beſtochen, fuͤr gedungen. Sie iſt hoͤchſtens ein Hauszeuge. Eben darum der natuͤrliche Hang zur Phyſiognomik. Man will in den Augen ſehen, wie dem Menſchen ums Herz iſt. Freylich iſts ſchwer, von dem auswendigen Menſchen auf den inwendigen zu ſchluͤßen. Ich wuͤrde weit eher aus dem Kleide, aus dem Pferde, den Menſchen beur- theilen, als aus ſeinen Geſichtszuͤgen, und andern Schilden, die er vielleicht mit gutem Vorbedacht aushaͤngt, und vom beſten Stadt- mahler zeichnen laͤßt. Waͤre hier zur Gewis- heit zu kommen, wuͤrden die Folgen nicht eben ſo gefaͤhrlich ſeyn, als es die von der Gewis- heit unſerer Todesſtunde ſind? Ich gebe ſelbſt zu, Gottes Finger habe ins Geſicht dem Menſchen ſein Teſtimonium geſchrieben; wer kann aber Gottes Hand leſen? Da ſie auf Cains Stirn leſerlich werden ſollte, mußte ſie verſtaͤndlich gemacht und mit rother Tinte unterſtrichen werden. In der nemlichen Ruͤck- ſicht ſind wir ſo fuͤr Handlungen, fuͤrs entſte- hen ſehen, vor unſern Augen, fuͤrs goͤttliche Sprechen, wo Donner und Blitz eins iſt! — „Eher B 2

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/25>, abgerufen am 21.11.2024.