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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781.

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drang, daß niemand sich sehen laßen möchte;
so war doch Herr v. W -- der Meynung,
daß dieses auf keine Weise Styli werden
könnte. Um indessen eine Finte anzubrin-
gen, lies er mich halb und halb in Ungewiß-
heit. Er wolte dadurch der Sache einen An-
strich von Unerwartung, und einen desto
größern Werth beylegen -- Ich war um
vier Uhr Morgens in Reisekleidern, und
eben, da ich mich durch den Saal schleichen
wolte, kam mir Herr v. W -- entgegen,
der, wie ein wachsamer Chef, eine Viertel-
stunde vor der bestimmten Zeit auf dem Platze
witterte -- Meine Schuld ist es nicht, fieng
er an -- und was konnt ich wohl bey diesen
Umständen anders, als Compliment über
Compliment machen -- Tinchen kam am
letzten, nicht weil sie am spätsten aufgestan-
den war, sondern weil ihr Vater es ihr vor-
gezeichnet. Auch bey der zärtlichsten herz-
lichsten Liebe, muß der Wohlstand nicht aus
den Augen gesetzt werden, sagte Herr v. W --,
da er ihr ihre Rolle übergab. O dieser Mor-
gen! -- Was ist alles im menschlichen Le-
ben, wenn man es nur zu nehmen verstehet!
Niemand, selbst Herr v. W -- nicht, war
völlig in pontificalibus (wie ers nannte). Der

Mor-

drang, daß niemand ſich ſehen laßen moͤchte;
ſo war doch Herr v. W — der Meynung,
daß dieſes auf keine Weiſe Styli werden
koͤnnte. Um indeſſen eine Finte anzubrin-
gen, lies er mich halb und halb in Ungewiß-
heit. Er wolte dadurch der Sache einen An-
ſtrich von Unerwartung, und einen deſto
groͤßern Werth beylegen — Ich war um
vier Uhr Morgens in Reiſekleidern, und
eben, da ich mich durch den Saal ſchleichen
wolte, kam mir Herr v. W — entgegen,
der, wie ein wachſamer Chef, eine Viertel-
ſtunde vor der beſtimmten Zeit auf dem Platze
witterte — Meine Schuld iſt es nicht, fieng
er an — und was konnt ich wohl bey dieſen
Umſtaͤnden anders, als Compliment uͤber
Compliment machen — Tinchen kam am
letzten, nicht weil ſie am ſpaͤtſten aufgeſtan-
den war, ſondern weil ihr Vater es ihr vor-
gezeichnet. Auch bey der zaͤrtlichſten herz-
lichſten Liebe, muß der Wohlſtand nicht aus
den Augen geſetzt werden, ſagte Herr v. W —,
da er ihr ihre Rolle uͤbergab. O dieſer Mor-
gen! — Was iſt alles im menſchlichen Le-
ben, wenn man es nur zu nehmen verſtehet!
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[510/0520] drang, daß niemand ſich ſehen laßen moͤchte; ſo war doch Herr v. W — der Meynung, daß dieſes auf keine Weiſe Styli werden koͤnnte. Um indeſſen eine Finte anzubrin- gen, lies er mich halb und halb in Ungewiß- heit. Er wolte dadurch der Sache einen An- ſtrich von Unerwartung, und einen deſto groͤßern Werth beylegen — Ich war um vier Uhr Morgens in Reiſekleidern, und eben, da ich mich durch den Saal ſchleichen wolte, kam mir Herr v. W — entgegen, der, wie ein wachſamer Chef, eine Viertel- ſtunde vor der beſtimmten Zeit auf dem Platze witterte — Meine Schuld iſt es nicht, fieng er an — und was konnt ich wohl bey dieſen Umſtaͤnden anders, als Compliment uͤber Compliment machen — Tinchen kam am letzten, nicht weil ſie am ſpaͤtſten aufgeſtan- den war, ſondern weil ihr Vater es ihr vor- gezeichnet. Auch bey der zaͤrtlichſten herz- lichſten Liebe, muß der Wohlſtand nicht aus den Augen geſetzt werden, ſagte Herr v. W —, da er ihr ihre Rolle uͤbergab. O dieſer Mor- gen! — Was iſt alles im menſchlichen Le- ben, wenn man es nur zu nehmen verſtehet! Niemand, ſelbſt Herr v. W — nicht, war voͤllig in pontificalibus (wie ers nannte). Der Mor-

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/520>, abgerufen am 21.11.2024.