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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.

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Erster Abschnitt. Aussicht in die Gärten
und Moos; und auf dem Gipfel sind kleine Tempel errichtet, wohin man auf rauhen
und ungleichen Stufen steigt, die in den Fels gehauen sind.

Wenn sich Wasser genug findet, und der Platz dazu geschickt ist, so unterlassen
die Chineser nicht, Wasserfälle in ihren Gärten anzulegen. Sie vermeiden dabey
alles Regelmäßige, und ahmen die Natur nach, wie sie in gebirgigen Gegenden ver-
fährt. Das Wasser springt aus Höhlen und Felsenritzen hervor. Hier erscheint
ein großer und ungestümer Wasserfall; dort erblickt man eine Menge von kleinen
Güssen. Zuweilen wird der Anblick der Cascade von Bäumen unterbrochen, deren
Blätter und Zweige nur hie und da in Zwischenräumen das Wasser durchschimmern
lassen, das längst den Seiten des Berges herabfällt. Zuweilen sind über den schnell-
sten Theil des Wasserfalls, von einem Felsen zum andern, hölzerne Brücken von gro-
ber Arbeit geworfen; und oft wird der Lauf des Wassers von Bäumen und großen
Steinen, welche die Gewalt des Stroms dahin getrieben zu haben scheint, aufge-
halten.

In dem Buschwerk der Chineser wechseln die Formen und Farben der Bäume
beständig ab. Sie wissen mit einer gewissen Kunst Bäume von großen und dickbe-
laubten Zweigen mit pyramidenförmigen, dunkles Laubwerk mit heiterm zu verbin-
den; sie mischen darunter Bäume, die Blüthen tragen, von welchen sie Arten haben,
die den größten Theil des Jahres hindurch blühen. Die Chineser haben in ihren
Gärten sogar Stämme von Bäumen, bald stehend, bald auf den Boden hingestürzt;
und sie treiben es in Ansehung ihrer Formen, der Farbe ihrer Rinde, und selbst ihres
Mooses sehr weit.

Nichts kann mannigfaltiger seyn, als die Mittel, wodurch sie Ueberraschung
hervorbringen. So führen sie oft mitten durch Höhlen und finstre Alleen, an deren
Ausgang man sich plötzlich von dem Anblick einer reizenden Landschaft entzückt fühlt,
die mit allem, was die Natur Schönes hat, ausgeschmückt ist. Ein andermal lei-
ten sie durch gerade Zugänge und Alleen, die immer abnehmen und allmählig verwil-
dern; der Durchgang ist endlich ganz gesperrt; Gesträuch, Schilf und Steine ma-
chen ihn undurchdringlich. Auf einmal eröffnet sich dem Auge eine lachende und
ausgebreitete Aussicht, die desto mehr gefällt, je weniger man sie erwartet hatte.

Ein anderes Kunstwerk der Chineser bestehet darin, daß sie einen Theil der
Anordnung durch Bäume und andere dazwischen tretende Gegenstände zu verbergen
wissen. Dieses erregt die Neubegierde des Zuschauers; er will in der Nähe sehen,
und bey der Annäherung findet er sich von einer unerwarteten Scene sehr angenehm
überrascht, oder von einer Ansicht, die dem, was er suchte, ganz entgegen gesetzt ist.
Das Ende der Scene ist immer versteckt, um der Einbildungskraft etwas zu über-

lassen,

Erſter Abſchnitt. Ausſicht in die Gaͤrten
und Moos; und auf dem Gipfel ſind kleine Tempel errichtet, wohin man auf rauhen
und ungleichen Stufen ſteigt, die in den Fels gehauen ſind.

Wenn ſich Waſſer genug findet, und der Platz dazu geſchickt iſt, ſo unterlaſſen
die Chineſer nicht, Waſſerfaͤlle in ihren Gaͤrten anzulegen. Sie vermeiden dabey
alles Regelmaͤßige, und ahmen die Natur nach, wie ſie in gebirgigen Gegenden ver-
faͤhrt. Das Waſſer ſpringt aus Hoͤhlen und Felſenritzen hervor. Hier erſcheint
ein großer und ungeſtuͤmer Waſſerfall; dort erblickt man eine Menge von kleinen
Guͤſſen. Zuweilen wird der Anblick der Caſcade von Baͤumen unterbrochen, deren
Blaͤtter und Zweige nur hie und da in Zwiſchenraͤumen das Waſſer durchſchimmern
laſſen, das laͤngſt den Seiten des Berges herabfaͤllt. Zuweilen ſind uͤber den ſchnell-
ſten Theil des Waſſerfalls, von einem Felſen zum andern, hoͤlzerne Bruͤcken von gro-
ber Arbeit geworfen; und oft wird der Lauf des Waſſers von Baͤumen und großen
Steinen, welche die Gewalt des Stroms dahin getrieben zu haben ſcheint, aufge-
halten.

In dem Buſchwerk der Chineſer wechſeln die Formen und Farben der Baͤume
beſtaͤndig ab. Sie wiſſen mit einer gewiſſen Kunſt Baͤume von großen und dickbe-
laubten Zweigen mit pyramidenfoͤrmigen, dunkles Laubwerk mit heiterm zu verbin-
den; ſie miſchen darunter Baͤume, die Bluͤthen tragen, von welchen ſie Arten haben,
die den groͤßten Theil des Jahres hindurch bluͤhen. Die Chineſer haben in ihren
Gaͤrten ſogar Staͤmme von Baͤumen, bald ſtehend, bald auf den Boden hingeſtuͤrzt;
und ſie treiben es in Anſehung ihrer Formen, der Farbe ihrer Rinde, und ſelbſt ihres
Mooſes ſehr weit.

Nichts kann mannigfaltiger ſeyn, als die Mittel, wodurch ſie Ueberraſchung
hervorbringen. So fuͤhren ſie oft mitten durch Hoͤhlen und finſtre Alleen, an deren
Ausgang man ſich ploͤtzlich von dem Anblick einer reizenden Landſchaft entzuͤckt fuͤhlt,
die mit allem, was die Natur Schoͤnes hat, ausgeſchmuͤckt iſt. Ein andermal lei-
ten ſie durch gerade Zugaͤnge und Alleen, die immer abnehmen und allmaͤhlig verwil-
dern; der Durchgang iſt endlich ganz geſperrt; Geſtraͤuch, Schilf und Steine ma-
chen ihn undurchdringlich. Auf einmal eroͤffnet ſich dem Auge eine lachende und
ausgebreitete Ausſicht, die deſto mehr gefaͤllt, je weniger man ſie erwartet hatte.

Ein anderes Kunſtwerk der Chineſer beſtehet darin, daß ſie einen Theil der
Anordnung durch Baͤume und andere dazwiſchen tretende Gegenſtaͤnde zu verbergen
wiſſen. Dieſes erregt die Neubegierde des Zuſchauers; er will in der Naͤhe ſehen,
und bey der Annaͤherung findet er ſich von einer unerwarteten Scene ſehr angenehm
uͤberraſcht, oder von einer Anſicht, die dem, was er ſuchte, ganz entgegen geſetzt iſt.
Das Ende der Scene iſt immer verſteckt, um der Einbildungskraft etwas zu uͤber-

laſſen,
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[86/0100] Erſter Abſchnitt. Ausſicht in die Gaͤrten und Moos; und auf dem Gipfel ſind kleine Tempel errichtet, wohin man auf rauhen und ungleichen Stufen ſteigt, die in den Fels gehauen ſind. Wenn ſich Waſſer genug findet, und der Platz dazu geſchickt iſt, ſo unterlaſſen die Chineſer nicht, Waſſerfaͤlle in ihren Gaͤrten anzulegen. Sie vermeiden dabey alles Regelmaͤßige, und ahmen die Natur nach, wie ſie in gebirgigen Gegenden ver- faͤhrt. Das Waſſer ſpringt aus Hoͤhlen und Felſenritzen hervor. Hier erſcheint ein großer und ungeſtuͤmer Waſſerfall; dort erblickt man eine Menge von kleinen Guͤſſen. Zuweilen wird der Anblick der Caſcade von Baͤumen unterbrochen, deren Blaͤtter und Zweige nur hie und da in Zwiſchenraͤumen das Waſſer durchſchimmern laſſen, das laͤngſt den Seiten des Berges herabfaͤllt. Zuweilen ſind uͤber den ſchnell- ſten Theil des Waſſerfalls, von einem Felſen zum andern, hoͤlzerne Bruͤcken von gro- ber Arbeit geworfen; und oft wird der Lauf des Waſſers von Baͤumen und großen Steinen, welche die Gewalt des Stroms dahin getrieben zu haben ſcheint, aufge- halten. In dem Buſchwerk der Chineſer wechſeln die Formen und Farben der Baͤume beſtaͤndig ab. Sie wiſſen mit einer gewiſſen Kunſt Baͤume von großen und dickbe- laubten Zweigen mit pyramidenfoͤrmigen, dunkles Laubwerk mit heiterm zu verbin- den; ſie miſchen darunter Baͤume, die Bluͤthen tragen, von welchen ſie Arten haben, die den groͤßten Theil des Jahres hindurch bluͤhen. Die Chineſer haben in ihren Gaͤrten ſogar Staͤmme von Baͤumen, bald ſtehend, bald auf den Boden hingeſtuͤrzt; und ſie treiben es in Anſehung ihrer Formen, der Farbe ihrer Rinde, und ſelbſt ihres Mooſes ſehr weit. Nichts kann mannigfaltiger ſeyn, als die Mittel, wodurch ſie Ueberraſchung hervorbringen. So fuͤhren ſie oft mitten durch Hoͤhlen und finſtre Alleen, an deren Ausgang man ſich ploͤtzlich von dem Anblick einer reizenden Landſchaft entzuͤckt fuͤhlt, die mit allem, was die Natur Schoͤnes hat, ausgeſchmuͤckt iſt. Ein andermal lei- ten ſie durch gerade Zugaͤnge und Alleen, die immer abnehmen und allmaͤhlig verwil- dern; der Durchgang iſt endlich ganz geſperrt; Geſtraͤuch, Schilf und Steine ma- chen ihn undurchdringlich. Auf einmal eroͤffnet ſich dem Auge eine lachende und ausgebreitete Ausſicht, die deſto mehr gefaͤllt, je weniger man ſie erwartet hatte. Ein anderes Kunſtwerk der Chineſer beſtehet darin, daß ſie einen Theil der Anordnung durch Baͤume und andere dazwiſchen tretende Gegenſtaͤnde zu verbergen wiſſen. Dieſes erregt die Neubegierde des Zuſchauers; er will in der Naͤhe ſehen, und bey der Annaͤherung findet er ſich von einer unerwarteten Scene ſehr angenehm uͤberraſcht, oder von einer Anſicht, die dem, was er ſuchte, ganz entgegen geſetzt iſt. Das Ende der Scene iſt immer verſteckt, um der Einbildungskraft etwas zu uͤber- laſſen,

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/100>, abgerufen am 22.11.2024.