Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.Zweyter Abschnitt. Von den verschiedenen Charakteren Seine Einsiedeley ist von zween Felsenspitzen eingeschlossen, und hat sehr enge Grän-zen; sie ist aber sehr künstlich angelegt, und hat am Mittag gegen Osten und Norden die bezauberndste Aussicht. Ob sie gleich auf zweytausend dreyhundert Schritte von dem Kloster entfernt ist, so hängt sie doch so gerade über demselben, daß die Felsen nicht nur den Schall der Orgel und die Stimmen der im Chor singenden Mönche herauftragen, sondern man auch hören kann, wenn unten auf dem Platze gesprochen wird. -- Die zweyte Einsiedeley ist die von St. Catharinen, die in einem tiefen und einsamen Thale liegt; dennoch hat sie am hellen Mittag einen sehr weiten und angenehmen Prospect nach Osten und Westen. Das Gebäude, der Garten u. s. f. sind sehr enge eingeschränkt, und liegen in einem höchst malerischen und sichern Winkel unter dem Fuß einer der hohen Spitzen. Wenn in diesem einsamsten und entfern- testen Aufenthalt der Einsiedler nicht sehr gewohnt ist, menschliche Stimmen zu hö- ren, so wird es ihm durch die lieblichen Töne der Vögel wieder reichlich ersetzt; denn kein Theil des Berges wird von ihnen mehr bewohnt, als diese anmuthige Seite. Hier wohnen die Nachtigall, der Hänfling, die Amsel und unzählige kleine Sänger in der freundschaftlichsten Vertraulichkeit mit ihrem Beschützer. Er hat sie so furchtlos und zahm gemacht, daß auf sein Rufen die ganze musikalische Gesellschaft ihre Zweige verläßt und die Person ihres täglichen Wohlthäters umgiebt. Einige setzen sich auf seinen Kopf, andere verwickeln ihre Füße in seinen Bart und nehmen ihm das Brodt aus dem Munde; ihr Zutrauen ist so groß, daß auch ein Fremder an ihren Liebkosungen Theil hat. Wenn er gleich sparsame Mahlzeiten hält: so hat er doch bey Tische Musik und wird von der Nachtigall in Schlaf gesungen. Wenn wir dabey bedenken, daß er nur wenig Tage im ganzen Jahre hat, die schlechter sind, als unsre besten im May und Junius, so kann man sich vorstellen, daß ein Mann, der eine so reine Luft einhaucht, der so leichte Speise genießt, dessen Blut durch mä- ßige Bewegung im freyen Umlauf erhalten, dessen Gemüth durch weltliche Angele- genheiten nie beunruhigt wird, dessen kurzer Schlaf süß und erfrischend ist, und der in der Zuversicht lebt, im Tode eine Wohnung im Himmel zu finden, ein Leben führt, das kein Mitleiden, wohl aber Neid erwecken kann. Da die Einsiedler nie- mals Fleisch essen, so konnte ich nicht umhin, die Anmerkung zu machen, welch ein glücklicher Umstand dieses für die Sicherheit seiner kleinen befiederten Freunde sey, und daß es weder Knaben gäbe, die die Jungen ausnähmen, noch Jäger, die die Alten tödteten. Das verhüte Gott, sagte er, daß keines von ihnen falle, außer durch die Hand dessen, der ihnen das Leben gab. Geben Sie mir Ihre Hand, sprach ich, und segnen mich. Er that es, aber es verkürzte meinen Besuch; ich gieng in seine Grotte, legte heimlich ein Pfund Chocolate auf seinen steinernen Tisch, und
Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren Seine Einſiedeley iſt von zween Felſenſpitzen eingeſchloſſen, und hat ſehr enge Graͤn-zen; ſie iſt aber ſehr kuͤnſtlich angelegt, und hat am Mittag gegen Oſten und Norden die bezauberndſte Ausſicht. Ob ſie gleich auf zweytauſend dreyhundert Schritte von dem Kloſter entfernt iſt, ſo haͤngt ſie doch ſo gerade uͤber demſelben, daß die Felſen nicht nur den Schall der Orgel und die Stimmen der im Chor ſingenden Moͤnche herauftragen, ſondern man auch hoͤren kann, wenn unten auf dem Platze geſprochen wird. — Die zweyte Einſiedeley iſt die von St. Catharinen, die in einem tiefen und einſamen Thale liegt; dennoch hat ſie am hellen Mittag einen ſehr weiten und angenehmen Proſpect nach Oſten und Weſten. Das Gebaͤude, der Garten u. ſ. f. ſind ſehr enge eingeſchraͤnkt, und liegen in einem hoͤchſt maleriſchen und ſichern Winkel unter dem Fuß einer der hohen Spitzen. Wenn in dieſem einſamſten und entfern- teſten Aufenthalt der Einſiedler nicht ſehr gewohnt iſt, menſchliche Stimmen zu hoͤ- ren, ſo wird es ihm durch die lieblichen Toͤne der Voͤgel wieder reichlich erſetzt; denn kein Theil des Berges wird von ihnen mehr bewohnt, als dieſe anmuthige Seite. Hier wohnen die Nachtigall, der Haͤnfling, die Amſel und unzaͤhlige kleine Saͤnger in der freundſchaftlichſten Vertraulichkeit mit ihrem Beſchuͤtzer. Er hat ſie ſo furchtlos und zahm gemacht, daß auf ſein Rufen die ganze muſikaliſche Geſellſchaft ihre Zweige verlaͤßt und die Perſon ihres taͤglichen Wohlthaͤters umgiebt. Einige ſetzen ſich auf ſeinen Kopf, andere verwickeln ihre Fuͤße in ſeinen Bart und nehmen ihm das Brodt aus dem Munde; ihr Zutrauen iſt ſo groß, daß auch ein Fremder an ihren Liebkoſungen Theil hat. Wenn er gleich ſparſame Mahlzeiten haͤlt: ſo hat er doch bey Tiſche Muſik und wird von der Nachtigall in Schlaf geſungen. Wenn wir dabey bedenken, daß er nur wenig Tage im ganzen Jahre hat, die ſchlechter ſind, als unſre beſten im May und Junius, ſo kann man ſich vorſtellen, daß ein Mann, der eine ſo reine Luft einhaucht, der ſo leichte Speiſe genießt, deſſen Blut durch maͤ- ßige Bewegung im freyen Umlauf erhalten, deſſen Gemuͤth durch weltliche Angele- genheiten nie beunruhigt wird, deſſen kurzer Schlaf ſuͤß und erfriſchend iſt, und der in der Zuverſicht lebt, im Tode eine Wohnung im Himmel zu finden, ein Leben fuͤhrt, das kein Mitleiden, wohl aber Neid erwecken kann. Da die Einſiedler nie- mals Fleiſch eſſen, ſo konnte ich nicht umhin, die Anmerkung zu machen, welch ein gluͤcklicher Umſtand dieſes fuͤr die Sicherheit ſeiner kleinen befiederten Freunde ſey, und daß es weder Knaben gaͤbe, die die Jungen ausnaͤhmen, noch Jaͤger, die die Alten toͤdteten. Das verhuͤte Gott, ſagte er, daß keines von ihnen falle, außer durch die Hand deſſen, der ihnen das Leben gab. Geben Sie mir Ihre Hand, ſprach ich, und ſegnen mich. Er that es, aber es verkuͤrzte meinen Beſuch; ich gieng in ſeine Grotte, legte heimlich ein Pfund Chocolate auf ſeinen ſteinernen Tiſch, und
<TEI> <text> <body> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0238" n="224"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren</hi></fw><lb/> Seine Einſiedeley iſt von zween Felſenſpitzen eingeſchloſſen, und hat ſehr enge Graͤn-<lb/> zen; ſie iſt aber ſehr kuͤnſtlich angelegt, und hat am Mittag gegen Oſten und Norden<lb/> die bezauberndſte Ausſicht. Ob ſie gleich auf zweytauſend dreyhundert Schritte von<lb/> dem Kloſter entfernt iſt, ſo haͤngt ſie doch ſo gerade uͤber demſelben, daß die Felſen<lb/> nicht nur den Schall der Orgel und die Stimmen der im Chor ſingenden Moͤnche<lb/> herauftragen, ſondern man auch hoͤren kann, wenn unten auf dem Platze geſprochen<lb/> wird. — Die zweyte Einſiedeley iſt die von <hi rendition="#fr">St. Catharinen,</hi> die in einem tiefen<lb/> und einſamen Thale liegt; dennoch hat ſie am hellen Mittag einen ſehr weiten und<lb/> angenehmen Proſpect nach Oſten und Weſten. Das Gebaͤude, der Garten u. ſ. f.<lb/> ſind ſehr enge eingeſchraͤnkt, und liegen in einem hoͤchſt maleriſchen und ſichern Winkel<lb/> unter dem Fuß einer der hohen Spitzen. Wenn in dieſem einſamſten und entfern-<lb/> teſten Aufenthalt der Einſiedler nicht ſehr gewohnt iſt, menſchliche Stimmen zu hoͤ-<lb/> ren, ſo wird es ihm durch die lieblichen Toͤne der Voͤgel wieder reichlich erſetzt; denn<lb/> kein Theil des Berges wird von ihnen mehr bewohnt, als dieſe anmuthige Seite.<lb/> Hier wohnen die Nachtigall, der Haͤnfling, die Amſel und unzaͤhlige kleine Saͤnger<lb/> in der freundſchaftlichſten Vertraulichkeit mit ihrem Beſchuͤtzer. Er hat ſie ſo<lb/> furchtlos und zahm gemacht, daß auf ſein Rufen die ganze muſikaliſche Geſellſchaft<lb/> ihre Zweige verlaͤßt und die Perſon ihres taͤglichen Wohlthaͤters umgiebt. Einige<lb/> ſetzen ſich auf ſeinen Kopf, andere verwickeln ihre Fuͤße in ſeinen Bart und nehmen<lb/> ihm das Brodt aus dem Munde; ihr Zutrauen iſt ſo groß, daß auch ein Fremder<lb/> an ihren Liebkoſungen Theil hat. Wenn er gleich ſparſame Mahlzeiten haͤlt: ſo hat<lb/> er doch bey Tiſche Muſik und wird von der Nachtigall in Schlaf geſungen. Wenn<lb/> wir dabey bedenken, daß er nur wenig Tage im ganzen Jahre hat, die ſchlechter ſind,<lb/> als unſre beſten im May und Junius, ſo kann man ſich vorſtellen, daß ein Mann,<lb/> der eine ſo reine Luft einhaucht, der ſo leichte Speiſe genießt, deſſen Blut durch maͤ-<lb/> ßige Bewegung im freyen Umlauf erhalten, deſſen Gemuͤth durch weltliche Angele-<lb/> genheiten nie beunruhigt wird, deſſen kurzer Schlaf ſuͤß und erfriſchend iſt, und der<lb/> in der Zuverſicht lebt, im Tode eine Wohnung im Himmel zu finden, ein Leben<lb/> fuͤhrt, das kein Mitleiden, wohl aber Neid erwecken kann. Da die Einſiedler nie-<lb/> mals Fleiſch eſſen, ſo konnte ich nicht umhin, die Anmerkung zu machen, welch ein<lb/> gluͤcklicher Umſtand dieſes fuͤr die Sicherheit ſeiner kleinen befiederten Freunde ſey,<lb/> und daß es weder Knaben gaͤbe, die die Jungen ausnaͤhmen, noch Jaͤger, die die<lb/> Alten toͤdteten. Das verhuͤte Gott, ſagte er, daß keines von ihnen falle, außer<lb/> durch die Hand deſſen, der ihnen das Leben gab. Geben Sie mir Ihre Hand,<lb/> ſprach ich, und ſegnen mich. Er that es, aber es verkuͤrzte meinen Beſuch; ich<lb/> gieng in ſeine Grotte, legte heimlich ein Pfund Chocolate auf ſeinen ſteinernen Tiſch,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [224/0238]
Zweyter Abſchnitt. Von den verſchiedenen Charakteren
Seine Einſiedeley iſt von zween Felſenſpitzen eingeſchloſſen, und hat ſehr enge Graͤn-
zen; ſie iſt aber ſehr kuͤnſtlich angelegt, und hat am Mittag gegen Oſten und Norden
die bezauberndſte Ausſicht. Ob ſie gleich auf zweytauſend dreyhundert Schritte von
dem Kloſter entfernt iſt, ſo haͤngt ſie doch ſo gerade uͤber demſelben, daß die Felſen
nicht nur den Schall der Orgel und die Stimmen der im Chor ſingenden Moͤnche
herauftragen, ſondern man auch hoͤren kann, wenn unten auf dem Platze geſprochen
wird. — Die zweyte Einſiedeley iſt die von St. Catharinen, die in einem tiefen
und einſamen Thale liegt; dennoch hat ſie am hellen Mittag einen ſehr weiten und
angenehmen Proſpect nach Oſten und Weſten. Das Gebaͤude, der Garten u. ſ. f.
ſind ſehr enge eingeſchraͤnkt, und liegen in einem hoͤchſt maleriſchen und ſichern Winkel
unter dem Fuß einer der hohen Spitzen. Wenn in dieſem einſamſten und entfern-
teſten Aufenthalt der Einſiedler nicht ſehr gewohnt iſt, menſchliche Stimmen zu hoͤ-
ren, ſo wird es ihm durch die lieblichen Toͤne der Voͤgel wieder reichlich erſetzt; denn
kein Theil des Berges wird von ihnen mehr bewohnt, als dieſe anmuthige Seite.
Hier wohnen die Nachtigall, der Haͤnfling, die Amſel und unzaͤhlige kleine Saͤnger
in der freundſchaftlichſten Vertraulichkeit mit ihrem Beſchuͤtzer. Er hat ſie ſo
furchtlos und zahm gemacht, daß auf ſein Rufen die ganze muſikaliſche Geſellſchaft
ihre Zweige verlaͤßt und die Perſon ihres taͤglichen Wohlthaͤters umgiebt. Einige
ſetzen ſich auf ſeinen Kopf, andere verwickeln ihre Fuͤße in ſeinen Bart und nehmen
ihm das Brodt aus dem Munde; ihr Zutrauen iſt ſo groß, daß auch ein Fremder
an ihren Liebkoſungen Theil hat. Wenn er gleich ſparſame Mahlzeiten haͤlt: ſo hat
er doch bey Tiſche Muſik und wird von der Nachtigall in Schlaf geſungen. Wenn
wir dabey bedenken, daß er nur wenig Tage im ganzen Jahre hat, die ſchlechter ſind,
als unſre beſten im May und Junius, ſo kann man ſich vorſtellen, daß ein Mann,
der eine ſo reine Luft einhaucht, der ſo leichte Speiſe genießt, deſſen Blut durch maͤ-
ßige Bewegung im freyen Umlauf erhalten, deſſen Gemuͤth durch weltliche Angele-
genheiten nie beunruhigt wird, deſſen kurzer Schlaf ſuͤß und erfriſchend iſt, und der
in der Zuverſicht lebt, im Tode eine Wohnung im Himmel zu finden, ein Leben
fuͤhrt, das kein Mitleiden, wohl aber Neid erwecken kann. Da die Einſiedler nie-
mals Fleiſch eſſen, ſo konnte ich nicht umhin, die Anmerkung zu machen, welch ein
gluͤcklicher Umſtand dieſes fuͤr die Sicherheit ſeiner kleinen befiederten Freunde ſey,
und daß es weder Knaben gaͤbe, die die Jungen ausnaͤhmen, noch Jaͤger, die die
Alten toͤdteten. Das verhuͤte Gott, ſagte er, daß keines von ihnen falle, außer
durch die Hand deſſen, der ihnen das Leben gab. Geben Sie mir Ihre Hand,
ſprach ich, und ſegnen mich. Er that es, aber es verkuͤrzte meinen Beſuch; ich
gieng in ſeine Grotte, legte heimlich ein Pfund Chocolate auf ſeinen ſteinernen Tiſch,
und
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |