Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Hoffmann, E. T. A.]: Die Elixiere des Teufels. Bd. 2. Berlin, 1816.

Bild:
<< vorherige Seite

die holde Gestalt der lebenden Aurelie, die,
himmlisches Mitleiden im Auge voll Thrä¬
nen, sich über mich hinbeugte. Sie streckte
die Hand, wie mich beschirmend aus, über
mein Haupt, da senkten sich meine Augen¬
lieder, und ein sanfter erquickender Schlum¬
mer goß neue Lebenskraft in meine Adern.
Als der Prior bemerkte, daß mein Geist wie¬
der einige Spannung gewonnen, gab er mir
des Mahlers Buch, und ermahnte mich, es auf¬
merksam in seiner Zelle zu lesen. -- Ich schlug
es auf, und das erste, was mir ins Auge fiel,
waren die in Umrissen angedeuteten und dann in
Licht und Schatten ausgeführten Zeichnungen
der Fresko-Gemählde in der heiligen Linde.
Nicht das mindeste Erstaunen, nicht die mindeste
Begierde, schnell das Räthsel zu lösen, regte
sich in mir auf. Nein! -- es gab kein Räth¬
sel für mich, längst wußte ich ja Alles, was
in diesem Mahlerbuch aufbewahrt worden.
Das, was der Mahler auf den letzten Seiten
des Buchs in kleiner, kaum lesbarer bunt

die holde Geſtalt der lebenden Aurelie, die,
himmliſches Mitleiden im Auge voll Thraͤ¬
nen, ſich uͤber mich hinbeugte. Sie ſtreckte
die Hand, wie mich beſchirmend aus, uͤber
mein Haupt, da ſenkten ſich meine Augen¬
lieder, und ein ſanfter erquickender Schlum¬
mer goß neue Lebenskraft in meine Adern.
Als der Prior bemerkte, daß mein Geiſt wie¬
der einige Spannung gewonnen, gab er mir
des Mahlers Buch, und ermahnte mich, es auf¬
merkſam in ſeiner Zelle zu leſen. — Ich ſchlug
es auf, und das erſte, was mir ins Auge fiel,
waren die in Umriſſen angedeuteten und dann in
Licht und Schatten ausgefuͤhrten Zeichnungen
der Fresko-Gemaͤhlde in der heiligen Linde.
Nicht das mindeſte Erſtaunen, nicht die mindeſte
Begierde, ſchnell das Raͤthſel zu loͤſen, regte
ſich in mir auf. Nein! — es gab kein Raͤth¬
ſel fuͤr mich, laͤngſt wußte ich ja Alles, was
in dieſem Mahlerbuch aufbewahrt worden.
Das, was der Mahler auf den letzten Seiten
des Buchs in kleiner, kaum lesbarer bunt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0209" n="201"/>
die holde Ge&#x017F;talt der lebenden Aurelie, die,<lb/>
himmli&#x017F;ches Mitleiden im Auge voll Thra&#x0364;¬<lb/>
nen, &#x017F;ich u&#x0364;ber mich hinbeugte. Sie &#x017F;treckte<lb/>
die Hand, wie mich be&#x017F;chirmend aus, u&#x0364;ber<lb/>
mein Haupt, da &#x017F;enkten &#x017F;ich meine Augen¬<lb/>
lieder, und ein &#x017F;anfter erquickender Schlum¬<lb/>
mer goß neue Lebenskraft in meine Adern.<lb/>
Als der Prior bemerkte, daß mein Gei&#x017F;t wie¬<lb/>
der einige Spannung gewonnen, gab er mir<lb/>
des Mahlers Buch, und ermahnte mich, es auf¬<lb/>
merk&#x017F;am in &#x017F;einer Zelle zu le&#x017F;en. &#x2014; Ich &#x017F;chlug<lb/>
es auf, und das er&#x017F;te, was mir ins Auge fiel,<lb/>
waren die in Umri&#x017F;&#x017F;en angedeuteten und dann in<lb/>
Licht und Schatten ausgefu&#x0364;hrten Zeichnungen<lb/>
der Fresko-Gema&#x0364;hlde in der heiligen Linde.<lb/>
Nicht das minde&#x017F;te Er&#x017F;taunen, nicht die minde&#x017F;te<lb/>
Begierde, &#x017F;chnell das Ra&#x0364;th&#x017F;el zu lo&#x0364;&#x017F;en, regte<lb/>
&#x017F;ich in mir auf. Nein! &#x2014; es gab kein Ra&#x0364;th¬<lb/>
&#x017F;el fu&#x0364;r mich, la&#x0364;ng&#x017F;t wußte ich ja Alles, was<lb/>
in die&#x017F;em Mahlerbuch aufbewahrt worden.<lb/>
Das, was der Mahler auf den letzten Seiten<lb/>
des Buchs in kleiner, kaum lesbarer bunt<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[201/0209] die holde Geſtalt der lebenden Aurelie, die, himmliſches Mitleiden im Auge voll Thraͤ¬ nen, ſich uͤber mich hinbeugte. Sie ſtreckte die Hand, wie mich beſchirmend aus, uͤber mein Haupt, da ſenkten ſich meine Augen¬ lieder, und ein ſanfter erquickender Schlum¬ mer goß neue Lebenskraft in meine Adern. Als der Prior bemerkte, daß mein Geiſt wie¬ der einige Spannung gewonnen, gab er mir des Mahlers Buch, und ermahnte mich, es auf¬ merkſam in ſeiner Zelle zu leſen. — Ich ſchlug es auf, und das erſte, was mir ins Auge fiel, waren die in Umriſſen angedeuteten und dann in Licht und Schatten ausgefuͤhrten Zeichnungen der Fresko-Gemaͤhlde in der heiligen Linde. Nicht das mindeſte Erſtaunen, nicht die mindeſte Begierde, ſchnell das Raͤthſel zu loͤſen, regte ſich in mir auf. Nein! — es gab kein Raͤth¬ ſel fuͤr mich, laͤngſt wußte ich ja Alles, was in dieſem Mahlerbuch aufbewahrt worden. Das, was der Mahler auf den letzten Seiten des Buchs in kleiner, kaum lesbarer bunt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_elixiere02_1816
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_elixiere02_1816/209
Zitationshilfe: [Hoffmann, E. T. A.]: Die Elixiere des Teufels. Bd. 2. Berlin, 1816, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_elixiere02_1816/209>, abgerufen am 27.11.2024.