4. Aber ist die poesie nicht die wiege der weisheit, und ein innbegriff aller wissenschafften? Wie kan man ihr nun den zugeeigneten vorzug absprechen? Jedoch es hat nichts zu bedeuten. Gesetzt: daß die ersten weisen ihre lehre in versen und reimen vor- getragen; ja laß es seyn, daß nicht nur die tichtkunst, sondern die vers- und reim-schmiederey selbst gleich- sam die windeln gewesen, darein man die neuge- bohrne philosophie eingewickelt; so sind doch wieg und windeln noch lange nicht dem darein geleg- ten Kinde zu vergleichen, ich geschweige denn vorzu- ziehen.
5. Daß die poesie ein innbegriff aller wissenschaff- ten sey, könnte ich mit eben dieser antwort abferti- gen; allein ich will dieses vorgeben zum überfluß absonderlich widerlegen. Es ist eine leere prale- rey der poeten, welche keine wahrheit zum grunde hat. Es solte ja wohl ein jeder tichter ein weiser mann seyn, aber nicht darum, weil er ein tichter, sondern weil er ein mensch ist. Daher hat es viel grosse poeten gegeben, die keine wahrhafftige leute gewe- sen. Doch es ist hier die rede von den wissenschaff- ten, oder der gelahrheit, und nicht von der weis- heit. Es hat aber fast gleiche bewandniß. Denn warum solte ein ungelehrter kein guter poete seyn können? Franckreich, ja Teutschland selbst, hat es uns ja deutlich genung vor augen gestellet. Die Leanders getichten mit einverleibten brieffe einer sich unter dem namen Florette verborgnen dame sind finnreich, artig und mit einem worte poetisch genung,
ob
Vorrede.
4. Aber iſt die poeſie nicht die wiege der weisheit, und ein innbegriff aller wiſſenſchafften? Wie kan man ihr nun den zugeeigneten vorzug abſprechen? Jedoch es hat nichts zu bedeuten. Geſetzt: daß die erſten weiſen ihre lehre in verſen und reimen vor- getragen; ja laß es ſeyn, daß nicht nur die tichtkunſt, ſondern die vers- und reim-ſchmiederey ſelbſt gleich- ſam die windeln geweſen, darein man die neuge- bohrne philoſophie eingewickelt; ſo ſind doch wieg und windeln noch lange nicht dem darein geleg- ten Kinde zu vergleichen, ich geſchweige denn vorzu- ziehen.
5. Daß die poeſie ein innbegriff aller wiſſenſchaff- ten ſey, koͤnnte ich mit eben dieſer antwort abferti- gen; allein ich will dieſes vorgeben zum uͤberfluß abſonderlich widerlegen. Es iſt eine leere prale- rey der poeten, welche keine wahrheit zum grunde hat. Es ſolte ja wohl ein jeder tichter ein weiſer mann ſeyn, aber nicht darum, weil er ein tichter, ſondern weil er ein menſch iſt. Daher hat es viel groſſe poeten gegeben, die keine wahrhafftige leute gewe- ſen. Doch es iſt hier die rede von den wiſſenſchaff- ten, oder der gelahrheit, und nicht von der weis- heit. Es hat aber faſt gleiche bewandniß. Denn warum ſolte ein ungelehrter kein guter poete ſeyn koͤnnen? Franckreich, ja Teutſchland ſelbſt, hat es uns ja deutlich genung vor augen geſtellet. Die Leanders getichten mit einverleibten brieffe einer ſich unter dem namen Florette verborgnen dame ſind finnreich, artig und mit einem worte poetiſch genung,
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[0010]
Vorrede.
4. Aber iſt die poeſie nicht die wiege der weisheit,
und ein innbegriff aller wiſſenſchafften? Wie kan
man ihr nun den zugeeigneten vorzug abſprechen?
Jedoch es hat nichts zu bedeuten. Geſetzt: daß
die erſten weiſen ihre lehre in verſen und reimen vor-
getragen; ja laß es ſeyn, daß nicht nur die tichtkunſt,
ſondern die vers- und reim-ſchmiederey ſelbſt gleich-
ſam die windeln geweſen, darein man die neuge-
bohrne philoſophie eingewickelt; ſo ſind doch wieg
und windeln noch lange nicht dem darein geleg-
ten Kinde zu vergleichen, ich geſchweige denn vorzu-
ziehen.
5. Daß die poeſie ein innbegriff aller wiſſenſchaff-
ten ſey, koͤnnte ich mit eben dieſer antwort abferti-
gen; allein ich will dieſes vorgeben zum uͤberfluß
abſonderlich widerlegen. Es iſt eine leere prale-
rey der poeten, welche keine wahrheit zum grunde hat.
Es ſolte ja wohl ein jeder tichter ein weiſer mann
ſeyn, aber nicht darum, weil er ein tichter, ſondern
weil er ein menſch iſt. Daher hat es viel groſſe
poeten gegeben, die keine wahrhafftige leute gewe-
ſen. Doch es iſt hier die rede von den wiſſenſchaff-
ten, oder der gelahrheit, und nicht von der weis-
heit. Es hat aber faſt gleiche bewandniß. Denn
warum ſolte ein ungelehrter kein guter poete ſeyn
koͤnnen? Franckreich, ja Teutſchland ſelbſt, hat es
uns ja deutlich genung vor augen geſtellet. Die
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Hofmannswaldau, Christian Hofmann von: Herrn von Hofmannswaldau und andrer Deutschen auserlesene und bißher ungedruckte Gedichte. Bd. 6. Leipzig, 1709, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmannswaldau_gedichte06_1709/10>, abgerufen am 21.11.2024.
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