Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

abermals nach dem kleinen Fenster hin und flüstert:
o, ihr goldenen Sterne, seid ihr denn eurer so viele
Erden, als ihr dort oben flimmert? Und leben auf
euch auch so vielerlei Menschen? Und machen sich die
auch so vielerlei Kummer und Noth? Dann weiß ich
wirklich nicht, wem dies Alles frommt! Weiß nicht,
zu wessen Freude so Viele leiden! Dann muß ich
zweifeln an der Güte des Schöpfers. Ach, lieber
Gott, laß mich nicht verzweifeln! Gieb mir meinen
Frieden wieder und mein ruhiges Kinderglück! Ver-
stoß mich nicht! Hörst Du? Und wenn Du mich
hörst, gieb mir jetzt gleich ein Zeichen!

Kaum waren die letzten Silben dieses naiven
Gebetes gesprochen, als Anton den Himmel und der
Sterne hellen Schein nicht mehr sah; ein Vorhang
schien das kleine Fenster zu verdunkeln. Bald ent-
deckt er ein menschliches Angesicht, welches ihm die
Aussicht raube. Er erhob sich auf seinem Lager,
nahm eine knieende Stellung ein und sah nun deut-
lich daß die Glasscheiben ihn von zwei Augen trenn-
ten, die feuriger glühten als Sterne. Sie konnten
nur der braunen Bärbel gehören. "Oeffne!" klang
es durch's dünne, in Blei gefaßte Glas. Er
gehorchte. Jetzt begann ein leiser Wortwechsel:

11*

abermals nach dem kleinen Fenſter hin und fluͤſtert:
o, ihr goldenen Sterne, ſeid ihr denn eurer ſo viele
Erden, als ihr dort oben flimmert? Und leben auf
euch auch ſo vielerlei Menſchen? Und machen ſich die
auch ſo vielerlei Kummer und Noth? Dann weiß ich
wirklich nicht, wem dies Alles frommt! Weiß nicht,
zu weſſen Freude ſo Viele leiden! Dann muß ich
zweifeln an der Guͤte des Schoͤpfers. Ach, lieber
Gott, laß mich nicht verzweifeln! Gieb mir meinen
Frieden wieder und mein ruhiges Kindergluͤck! Ver-
ſtoß mich nicht! Hoͤrſt Du? Und wenn Du mich
hoͤrſt, gieb mir jetzt gleich ein Zeichen!

Kaum waren die letzten Silben dieſes naiven
Gebetes geſprochen, als Anton den Himmel und der
Sterne hellen Schein nicht mehr ſah; ein Vorhang
ſchien das kleine Fenſter zu verdunkeln. Bald ent-
deckt er ein menſchliches Angeſicht, welches ihm die
Ausſicht raube. Er erhob ſich auf ſeinem Lager,
nahm eine knieende Stellung ein und ſah nun deut-
lich daß die Glasſcheiben ihn von zwei Augen trenn-
ten, die feuriger gluͤhten als Sterne. Sie konnten
nur der braunen Baͤrbel gehoͤren. „Oeffne!“ klang
es durch’s duͤnne, in Blei gefaßte Glas. Er
gehorchte. Jetzt begann ein leiſer Wortwechſel:

11*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0179" n="163"/>
abermals nach dem kleinen Fen&#x017F;ter hin und flu&#x0364;&#x017F;tert:<lb/>
o, ihr goldenen Sterne, &#x017F;eid ihr denn eurer &#x017F;o viele<lb/>
Erden, als ihr dort oben flimmert? Und leben auf<lb/>
euch auch &#x017F;o vielerlei Men&#x017F;chen? Und machen &#x017F;ich die<lb/>
auch &#x017F;o vielerlei Kummer und Noth? Dann weiß ich<lb/>
wirklich nicht, wem dies Alles frommt! Weiß nicht,<lb/>
zu we&#x017F;&#x017F;en Freude &#x017F;o Viele leiden! Dann muß ich<lb/>
zweifeln an der Gu&#x0364;te des Scho&#x0364;pfers. Ach, lieber<lb/>
Gott, laß mich nicht verzweifeln! Gieb mir meinen<lb/>
Frieden wieder und mein ruhiges Kinderglu&#x0364;ck! Ver-<lb/>
&#x017F;toß mich nicht! Ho&#x0364;r&#x017F;t Du? Und wenn Du mich<lb/>
ho&#x0364;r&#x017F;t, gieb mir jetzt gleich ein Zeichen!</p><lb/>
        <p>Kaum waren die letzten Silben die&#x017F;es naiven<lb/>
Gebetes ge&#x017F;prochen, als Anton den Himmel und der<lb/>
Sterne hellen Schein nicht mehr &#x017F;ah; ein Vorhang<lb/>
&#x017F;chien das kleine Fen&#x017F;ter zu verdunkeln. Bald ent-<lb/>
deckt er ein men&#x017F;chliches Ange&#x017F;icht, welches ihm die<lb/>
Aus&#x017F;icht raube. Er erhob &#x017F;ich auf &#x017F;einem Lager,<lb/>
nahm eine knieende Stellung ein und &#x017F;ah nun deut-<lb/>
lich daß die Glas&#x017F;cheiben ihn von zwei Augen trenn-<lb/>
ten, die feuriger glu&#x0364;hten als Sterne. Sie konnten<lb/>
nur der braunen Ba&#x0364;rbel geho&#x0364;ren. &#x201E;Oeffne!&#x201C; klang<lb/>
es durch&#x2019;s du&#x0364;nne, in Blei gefaßte Glas. Er<lb/>
gehorchte. Jetzt begann ein lei&#x017F;er Wortwech&#x017F;el:</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">11*</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[163/0179] abermals nach dem kleinen Fenſter hin und fluͤſtert: o, ihr goldenen Sterne, ſeid ihr denn eurer ſo viele Erden, als ihr dort oben flimmert? Und leben auf euch auch ſo vielerlei Menſchen? Und machen ſich die auch ſo vielerlei Kummer und Noth? Dann weiß ich wirklich nicht, wem dies Alles frommt! Weiß nicht, zu weſſen Freude ſo Viele leiden! Dann muß ich zweifeln an der Guͤte des Schoͤpfers. Ach, lieber Gott, laß mich nicht verzweifeln! Gieb mir meinen Frieden wieder und mein ruhiges Kindergluͤck! Ver- ſtoß mich nicht! Hoͤrſt Du? Und wenn Du mich hoͤrſt, gieb mir jetzt gleich ein Zeichen! Kaum waren die letzten Silben dieſes naiven Gebetes geſprochen, als Anton den Himmel und der Sterne hellen Schein nicht mehr ſah; ein Vorhang ſchien das kleine Fenſter zu verdunkeln. Bald ent- deckt er ein menſchliches Angeſicht, welches ihm die Ausſicht raube. Er erhob ſich auf ſeinem Lager, nahm eine knieende Stellung ein und ſah nun deut- lich daß die Glasſcheiben ihn von zwei Augen trenn- ten, die feuriger gluͤhten als Sterne. Sie konnten nur der braunen Baͤrbel gehoͤren. „Oeffne!“ klang es durch’s duͤnne, in Blei gefaßte Glas. Er gehorchte. Jetzt begann ein leiſer Wortwechſel: 11*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/179
Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/179>, abgerufen am 25.05.2024.