druß. Jch kann doch nicht den ganzen Tag bei Dir sitzen, um Acht zu geben auf Dich und Dir vorzusin- gen, wie einem kleinen Kinde? Mit sechszig bis sie- benzig Jahren könntest Du schon genug Verstand haben, um manchmal ein Stündchen ohne Aufsicht zu bleiben? Und wenn Du nicht gut thust, werde ich Dir eine derbe Ruthe flechten, so wahr ich Anton heiße, und ein berühmter Korbmacher in Liebenau bin.
Da lachte die Mutter Goksch über sein albernes Geplauder, daß ihr beinahe wieder die Thränen über beide Backen gelaufen wären, und kichernd rief sie: "Ach, wenn Deine Mutter Dich so sehn könnte!" Aber kaum hatte sie's gesagt, als sie wirklich zu weinen anfing; diesmal jedoch so innig und sanft, daß der ehrliche Anton ein Bischen mitweinte, denn das geschah ihm jedesmal, wenn seiner Mutter gedacht wurde, deren er sich aus den ersten Monden seiner Kindheit zu erinnern wähnte, wie eines glänzenden Traums. Augenblicklich ließ er von seinen Scherzen ab. Mit feierlichem Ernste setzt' er sich auf den Bo- den, der Großmutter zu Füßen und sein tiefes Auge fest nach ihr gewendet, fragte er in rührendem Tone: Nicht wahr, ich sehe ihr gleich?
druß. Jch kann doch nicht den ganzen Tag bei Dir ſitzen, um Acht zu geben auf Dich und Dir vorzuſin- gen, wie einem kleinen Kinde? Mit ſechszig bis ſie- benzig Jahren koͤnnteſt Du ſchon genug Verſtand haben, um manchmal ein Stuͤndchen ohne Aufſicht zu bleiben? Und wenn Du nicht gut thuſt, werde ich Dir eine derbe Ruthe flechten, ſo wahr ich Anton heiße, und ein beruͤhmter Korbmacher in Liebenau bin.
Da lachte die Mutter Gokſch uͤber ſein albernes Geplauder, daß ihr beinahe wieder die Thraͤnen uͤber beide Backen gelaufen waͤren, und kichernd rief ſie: „Ach, wenn Deine Mutter Dich ſo ſehn koͤnnte!“ Aber kaum hatte ſie’s geſagt, als ſie wirklich zu weinen anfing; diesmal jedoch ſo innig und ſanft, daß der ehrliche Anton ein Bischen mitweinte, denn das geſchah ihm jedesmal, wenn ſeiner Mutter gedacht wurde, deren er ſich aus den erſten Monden ſeiner Kindheit zu erinnern waͤhnte, wie eines glaͤnzenden Traums. Augenblicklich ließ er von ſeinen Scherzen ab. Mit feierlichem Ernſte ſetzt’ er ſich auf den Bo- den, der Großmutter zu Fuͤßen und ſein tiefes Auge feſt nach ihr gewendet, fragte er in ruͤhrendem Tone: Nicht wahr, ich ſehe ihr gleich?
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druß. Jch kann doch nicht den ganzen Tag bei Dir
ſitzen, um Acht zu geben auf Dich und Dir vorzuſin-
gen, wie einem kleinen Kinde? Mit ſechszig bis ſie-
benzig Jahren koͤnnteſt Du ſchon genug Verſtand
haben, um manchmal ein Stuͤndchen ohne Aufſicht
zu bleiben? Und wenn Du nicht gut thuſt, werde ich
Dir eine derbe Ruthe flechten, ſo wahr ich Anton
heiße, und ein beruͤhmter Korbmacher in Liebenau
bin.
Da lachte die Mutter Gokſch uͤber ſein albernes
Geplauder, daß ihr beinahe wieder die Thraͤnen uͤber
beide Backen gelaufen waͤren, und kichernd rief ſie:
„Ach, wenn Deine Mutter Dich ſo ſehn koͤnnte!“ Aber
kaum hatte ſie’s geſagt, als ſie wirklich zu weinen
anfing; diesmal jedoch ſo innig und ſanft, daß der
ehrliche Anton ein Bischen mitweinte, denn das
geſchah ihm jedesmal, wenn ſeiner Mutter gedacht
wurde, deren er ſich aus den erſten Monden ſeiner
Kindheit zu erinnern waͤhnte, wie eines glaͤnzenden
Traums. Augenblicklich ließ er von ſeinen Scherzen
ab. Mit feierlichem Ernſte ſetzt’ er ſich auf den Bo-
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feſt nach ihr gewendet, fragte er in ruͤhrendem Tone:
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/20>, abgerufen am 21.11.2024.
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