Vor Mutter und Vater hatte das hartnäckige Mädel ihren Zustand zu verbergen gewußt. Was jetzt erfolgt war, konnte und durfte natürlich nicht verborgen bleiben. Dein Großvater mußte gebührende Anzeige machen. Da war denn der Stab über die Kantorfamilie gebrochen, die Fahne der Schmach ward uns auf's Dach gesteckt und weh'te wie ein durchlöcherter, schmutziger Fetzen im kalten Schnee- winde, indessen and'rer Orten die Weihnachts-Feier- tage fröhlich begangen wurden. Es währte auch nicht lange, so hatte der Pastor Primarius es Oben durch- gesetzt, daß Dein Großvater vom Amte gejagt wurde, weil, wie der vollgefressene Bratensack behauptete, die Schulkinder nicht mehr von einem harthörigen Lehrer unterrichtet werden könnten, der für die Schande seiner eigenen Tochter taub und blind gewesen wäre. Wir mußten ausziehen. Aus unserem heimlichen, warmen, grünumwachsenen Häuschen hinaus! Zum Glück, daß die Bäume dürr waren und winterkahl. Um Ostern zogen wir hinaus. Wir hatten weiße Ostern. Es war noch grimmig kalt. Draußen in der Wiesenauer Vorstadt fanden wir eine kleine Woh- nung. Jn einem Zimmer hausete ich mit meinem armen, niedergebeugten Alten. Jm anderen trieb
Vor Mutter und Vater hatte das hartnaͤckige Maͤdel ihren Zuſtand zu verbergen gewußt. Was jetzt erfolgt war, konnte und durfte natuͤrlich nicht verborgen bleiben. Dein Großvater mußte gebuͤhrende Anzeige machen. Da war denn der Stab uͤber die Kantorfamilie gebrochen, die Fahne der Schmach ward uns auf’s Dach geſteckt und weh’te wie ein durchloͤcherter, ſchmutziger Fetzen im kalten Schnee- winde, indeſſen and’rer Orten die Weihnachts-Feier- tage froͤhlich begangen wurden. Es waͤhrte auch nicht lange, ſo hatte der Paſtor Primarius es Oben durch- geſetzt, daß Dein Großvater vom Amte gejagt wurde, weil, wie der vollgefreſſene Bratenſack behauptete, die Schulkinder nicht mehr von einem harthoͤrigen Lehrer unterrichtet werden koͤnnten, der fuͤr die Schande ſeiner eigenen Tochter taub und blind geweſen waͤre. Wir mußten ausziehen. Aus unſerem heimlichen, warmen, gruͤnumwachſenen Haͤuschen hinaus! Zum Gluͤck, daß die Baͤume duͤrr waren und winterkahl. Um Oſtern zogen wir hinaus. Wir hatten weiße Oſtern. Es war noch grimmig kalt. Draußen in der Wieſenauer Vorſtadt fanden wir eine kleine Woh- nung. Jn einem Zimmer hauſete ich mit meinem armen, niedergebeugten Alten. Jm anderen trieb
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Vor Mutter und Vater hatte das hartnaͤckige
Maͤdel ihren Zuſtand zu verbergen gewußt. Was
jetzt erfolgt war, konnte und durfte natuͤrlich nicht
verborgen bleiben. Dein Großvater mußte gebuͤhrende
Anzeige machen. Da war denn der Stab uͤber die
Kantorfamilie gebrochen, die Fahne der Schmach
ward uns auf’s Dach geſteckt und weh’te wie ein
durchloͤcherter, ſchmutziger Fetzen im kalten Schnee-
winde, indeſſen and’rer Orten die Weihnachts-Feier-
tage froͤhlich begangen wurden. Es waͤhrte auch nicht
lange, ſo hatte der Paſtor Primarius es Oben durch-
geſetzt, daß Dein Großvater vom Amte gejagt wurde,
weil, wie der vollgefreſſene Bratenſack behauptete,
die Schulkinder nicht mehr von einem harthoͤrigen
Lehrer unterrichtet werden koͤnnten, der fuͤr die Schande
ſeiner eigenen Tochter taub und blind geweſen waͤre.
Wir mußten ausziehen. Aus unſerem heimlichen,
warmen, gruͤnumwachſenen Haͤuschen hinaus! Zum
Gluͤck, daß die Baͤume duͤrr waren und winterkahl.
Um Oſtern zogen wir hinaus. Wir hatten weiße
Oſtern. Es war noch grimmig kalt. Draußen in
der Wieſenauer Vorſtadt fanden wir eine kleine Woh-
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/38>, abgerufen am 21.11.2024.
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