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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852.

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Die Weidenruthen streben
Aus dem Geflecht heraus;
Doch müssen sie sich geben,
Es wird ein Korb daraus.
Ein Korb! Das ist ein schlechter,
Ein trauriger Doppelsinn.
O armer, armer Korbflechter,
Ein Korb ist Dein Gewinn."

Seltsam, seltsam bleibt es, daß Tieletunke diese
Reime sich oft sinnend vorsagt. Noch seltsamer, daß
dieselben, von einmal hören, ihr im Gedächtniß
blieben!?



Fünftes Kapitel.

Wie Anton auf's Schloß gerufen wird, vor dem fremden Musikmeister Ca-
rino zu geigen; dann mit einem Glase Ungarwein im Kopfe einschläft, und mit
der Liebe im Herzen erwacht.

Für die ausgestoßene Turteltaube, die er vorsich-
tig heimtrug, auf's ängstlichste besorgt, langte Anton
vor Sonnenuntergang bei seiner Großmutter an. Um
jeder Frage, wie er den langen Tag, und wo, zuge-
bracht haben möge? auszuweichen, hielt er seiner
Alten die Taube hin, mit den Worten: "noch ein
Pflegekind!"

Mutter Goksch besaß zarten Sinn genug und

Die Weidenruthen ſtreben
Aus dem Geflecht heraus;
Doch müſſen ſie ſich geben,
Es wird ein Korb daraus.
Ein Korb! Das iſt ein ſchlechter,
Ein trauriger Doppelſinn.
O armer, armer Korbflechter,
Ein Korb iſt Dein Gewinn.“

Seltſam, ſeltſam bleibt es, daß Tieletunke dieſe
Reime ſich oft ſinnend vorſagt. Noch ſeltſamer, daß
dieſelben, von einmal hoͤren, ihr im Gedaͤchtniß
blieben!?



Fünftes Kapitel.

Wie Anton auf’s Schloß gerufen wird, vor dem fremden Muſikmeiſter Ca-
rino zu geigen; dann mit einem Glaſe Ungarwein im Kopfe einſchläft, und mit
der Liebe im Herzen erwacht.

Fuͤr die ausgeſtoßene Turteltaube, die er vorſich-
tig heimtrug, auf’s aͤngſtlichſte beſorgt, langte Anton
vor Sonnenuntergang bei ſeiner Großmutter an. Um
jeder Frage, wie er den langen Tag, und wo, zuge-
bracht haben moͤge? auszuweichen, hielt er ſeiner
Alten die Taube hin, mit den Worten: „noch ein
Pflegekind!“

Mutter Gokſch beſaß zarten Sinn genug und

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[58/0074] Die Weidenruthen ſtreben Aus dem Geflecht heraus; Doch müſſen ſie ſich geben, Es wird ein Korb daraus. Ein Korb! Das iſt ein ſchlechter, Ein trauriger Doppelſinn. O armer, armer Korbflechter, Ein Korb iſt Dein Gewinn.“ Seltſam, ſeltſam bleibt es, daß Tieletunke dieſe Reime ſich oft ſinnend vorſagt. Noch ſeltſamer, daß dieſelben, von einmal hoͤren, ihr im Gedaͤchtniß blieben!? Fünftes Kapitel. Wie Anton auf’s Schloß gerufen wird, vor dem fremden Muſikmeiſter Ca- rino zu geigen; dann mit einem Glaſe Ungarwein im Kopfe einſchläft, und mit der Liebe im Herzen erwacht. Fuͤr die ausgeſtoßene Turteltaube, die er vorſich- tig heimtrug, auf’s aͤngſtlichſte beſorgt, langte Anton vor Sonnenuntergang bei ſeiner Großmutter an. Um jeder Frage, wie er den langen Tag, und wo, zuge- bracht haben moͤge? auszuweichen, hielt er ſeiner Alten die Taube hin, mit den Worten: „noch ein Pflegekind!“ Mutter Gokſch beſaß zarten Sinn genug und

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Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/74>, abgerufen am 21.11.2024.