Stunde geben? Muß nicht jeder Lobspruch, der ihm für Aufmerksamkeit und Fleiß zu Theil wird, einen Stich in sein Herz thun, weil er ihm mit andern Worten andeutet: nur auf dieser Stufe bist Du brauchbar, auf dieser harre aus? Wehe ihm nun gar wenn er, empfänglich für Poesie, um sich geistig wei- ter zu fördern mit Ernst und Einsicht die Werke der Meister studirt. Dann wird er sich nicht verschweigen können, daß er würdiger sei ihre Herrlichkeit von der Bühne zu verkünden, als viele die neben ihm stehen; die er eben so weit übersieht, wie sie ihn als Schau- spieler übertreffen. Denn, mein Lieber, nicht jeder der es versteht, vermag es auszudrücken, nicht jeder der es fühlt, kann es wiedergeben. Sonst müssen ja alle kluge, gefühlvolle Menschen, die eine gute Aus- sprache, ein ausdrucksvolles Gesicht, eine starke Brust und gesunde Gliedmaßen besitzen, im Stande sein vortreffliche Schauspieler zu werden? Sie sind es aber nicht im Stande! Nein, sie sind es nicht! Die Darstellungsgabe ist ein sechster Sinn, ein unerforsch- liches Etwas, dessen Entstehen und Walten noch kein Physiologe auseinandergesetzt hat, und eben so wenig jemals Einer belauschen wird, wie die Mysterien der Zeugung. Und woher muthmaßen Sie, daß dieser
Stunde geben? Muß nicht jeder Lobſpruch, der ihm fuͤr Aufmerkſamkeit und Fleiß zu Theil wird, einen Stich in ſein Herz thun, weil er ihm mit andern Worten andeutet: nur auf dieſer Stufe biſt Du brauchbar, auf dieſer harre aus? Wehe ihm nun gar wenn er, empfaͤnglich fuͤr Poeſie, um ſich geiſtig wei- ter zu foͤrdern mit Ernſt und Einſicht die Werke der Meiſter ſtudirt. Dann wird er ſich nicht verſchweigen koͤnnen, daß er wuͤrdiger ſei ihre Herrlichkeit von der Buͤhne zu verkuͤnden, als viele die neben ihm ſtehen; die er eben ſo weit uͤberſieht, wie ſie ihn als Schau- ſpieler uͤbertreffen. Denn, mein Lieber, nicht jeder der es verſteht, vermag es auszudruͤcken, nicht jeder der es fuͤhlt, kann es wiedergeben. Sonſt muͤſſen ja alle kluge, gefuͤhlvolle Menſchen, die eine gute Aus- ſprache, ein ausdrucksvolles Geſicht, eine ſtarke Bruſt und geſunde Gliedmaßen beſitzen, im Stande ſein vortreffliche Schauſpieler zu werden? Sie ſind es aber nicht im Stande! Nein, ſie ſind es nicht! Die Darſtellungsgabe iſt ein ſechſter Sinn, ein unerforſch- liches Etwas, deſſen Entſtehen und Walten noch kein Phyſiologe auseinandergeſetzt hat, und eben ſo wenig jemals Einer belauſchen wird, wie die Myſterien der Zeugung. Und woher muthmaßen Sie, daß dieſer
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Stunde geben? Muß nicht jeder Lobſpruch, der ihm
fuͤr Aufmerkſamkeit und Fleiß zu Theil wird, einen
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Worten andeutet: nur auf dieſer Stufe biſt Du
brauchbar, auf dieſer harre aus? Wehe ihm nun gar
wenn er, empfaͤnglich fuͤr Poeſie, um ſich geiſtig wei-
ter zu foͤrdern mit Ernſt und Einſicht die Werke der
Meiſter ſtudirt. Dann wird er ſich nicht verſchweigen
koͤnnen, daß er wuͤrdiger ſei ihre Herrlichkeit von der
Buͤhne zu verkuͤnden, als viele die neben ihm ſtehen;
die er eben ſo weit uͤberſieht, wie ſie ihn als Schau-
ſpieler uͤbertreffen. Denn, mein Lieber, nicht jeder
der es verſteht, vermag es auszudruͤcken, nicht jeder
der es fuͤhlt, kann es wiedergeben. Sonſt muͤſſen ja
alle kluge, gefuͤhlvolle Menſchen, die eine gute Aus-
ſprache, ein ausdrucksvolles Geſicht, eine ſtarke Bruſt
und geſunde Gliedmaßen beſitzen, im Stande ſein
vortreffliche Schauſpieler zu werden? Sie ſind es
aber nicht im Stande! Nein, ſie ſind es nicht! Die
Darſtellungsgabe iſt ein ſechſter Sinn, ein unerforſch-
liches Etwas, deſſen Entſtehen und Walten noch kein
Phyſiologe auseinandergeſetzt hat, und eben ſo wenig
jemals Einer belauſchen wird, wie die Myſterien der
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 2. Breslau, 1852, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden02_1852/107>, abgerufen am 23.11.2024.
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