er fragte keinen Begegnenden, ob man sie gesehen? Er saß unbeweglich, mir gegenüber, und wie wenn er nachholen wolle, was er bisher, von den Schwestern beobachtet, versäumen müssen, starrte er mich auf eine Weise an, die mir bald keinen Zweifel mehr ließ, über seine wahren Absichten: Es waren nicht die bei- den Mädchen, die ihm entlaufen waren; er selbst war es, der ihnen entfloh und mich entführte. So war ich also in eines ungebildeten, leidenschaftlichen Men- schen Gewalt gegeben. Doch glücklicherweise miß- brauchte er dieselbe nicht. Er gab mir deutlich zu verstehen, daß er gar wohl den Unterschied anerkenne, welcher zwischen mir und den Verlassenen statt finde; daß er sich von Jenen getrennt habe, mehr aus Rück- sicht für mich und um mich ihrer Gemeinschaft zu entziehen; daß er mich eben so verehre, wie er die Schwestern geringschätze; daß ich mich niemals über seine Zudringlichkeit beklagen solle, und daß er es einzig und allein in meinen freien Willen stelle, ob ich ihm jemals nähere Rechte auf mich einräumen würde oder nicht? Für's Erste begnügte er sich, mein Diener zu sein, nicht mein Begleiter. Sobald ich erst darüber beruhiget, mich vor seiner Zärtlichkeit nicht zu fürchten brauchte, fand ich mich sehr zufrie-
er fragte keinen Begegnenden, ob man ſie geſehen? Er ſaß unbeweglich, mir gegenuͤber, und wie wenn er nachholen wolle, was er bisher, von den Schweſtern beobachtet, verſaͤumen muͤſſen, ſtarrte er mich auf eine Weiſe an, die mir bald keinen Zweifel mehr ließ, uͤber ſeine wahren Abſichten: Es waren nicht die bei- den Maͤdchen, die ihm entlaufen waren; er ſelbſt war es, der ihnen entfloh und mich entfuͤhrte. So war ich alſo in eines ungebildeten, leidenſchaftlichen Men- ſchen Gewalt gegeben. Doch gluͤcklicherweiſe miß- brauchte er dieſelbe nicht. Er gab mir deutlich zu verſtehen, daß er gar wohl den Unterſchied anerkenne, welcher zwiſchen mir und den Verlaſſenen ſtatt finde; daß er ſich von Jenen getrennt habe, mehr aus Ruͤck- ſicht fuͤr mich und um mich ihrer Gemeinſchaft zu entziehen; daß er mich eben ſo verehre, wie er die Schweſtern geringſchaͤtze; daß ich mich niemals uͤber ſeine Zudringlichkeit beklagen ſolle, und daß er es einzig und allein in meinen freien Willen ſtelle, ob ich ihm jemals naͤhere Rechte auf mich einraͤumen wuͤrde oder nicht? Fuͤr’s Erſte begnuͤgte er ſich, mein Diener zu ſein, nicht mein Begleiter. Sobald ich erſt daruͤber beruhiget, mich vor ſeiner Zaͤrtlichkeit nicht zu fuͤrchten brauchte, fand ich mich ſehr zufrie-
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er fragte keinen Begegnenden, ob man ſie geſehen?
Er ſaß unbeweglich, mir gegenuͤber, und wie wenn er
nachholen wolle, was er bisher, von den Schweſtern
beobachtet, verſaͤumen muͤſſen, ſtarrte er mich auf
eine Weiſe an, die mir bald keinen Zweifel mehr ließ,
uͤber ſeine wahren Abſichten: Es waren nicht die bei-
den Maͤdchen, die ihm entlaufen waren; er ſelbſt war
es, der ihnen entfloh und mich entfuͤhrte. So war
ich alſo in eines ungebildeten, leidenſchaftlichen Men-
ſchen Gewalt gegeben. Doch gluͤcklicherweiſe miß-
brauchte er dieſelbe nicht. Er gab mir deutlich zu
verſtehen, daß er gar wohl den Unterſchied anerkenne,
welcher zwiſchen mir und den Verlaſſenen ſtatt finde;
daß er ſich von Jenen getrennt habe, mehr aus Ruͤck-
ſicht fuͤr mich und um mich ihrer Gemeinſchaft zu
entziehen; daß er mich eben ſo verehre, wie er die
Schweſtern geringſchaͤtze; daß ich mich niemals uͤber
ſeine Zudringlichkeit beklagen ſolle, und daß er es
einzig und allein in meinen freien Willen ſtelle, ob
ich ihm jemals naͤhere Rechte auf mich einraͤumen
wuͤrde oder nicht? Fuͤr’s Erſte begnuͤgte er ſich, mein
Diener zu ſein, nicht mein Begleiter. Sobald ich
erſt daruͤber beruhiget, mich vor ſeiner Zaͤrtlichkeit
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/258>, abgerufen am 04.12.2024.
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