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Holz, Arno: Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich, 1886.

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"Horchst du noch immer, Menschenkind,
Wie deine Wunde blutend rinnt?
Und willst du nie nach Todeswehn
Zu neuem Leben auferstehn?
Sieh, dunkel schweigt um dich die Flur,
Und mit dem Tod ringt die Natur.
Doch eh der Thau zum Zweiten fällt,
Erglänzte abermals die Welt;
Und schon nach wenig Monden hebt
Ihr Haupt die Erde neubelebt.
Darum bescheide du dich still
Und harre deß, was kommen will.
Denn deines Lebens goldne Zeit
Ruht noch im Schooß der Ewigkeit.
Und naht sich einstmals ihre Stund,
Und küßt dich leise auf den Mund,
O, dann kehrt auch ins Herz zurück
Dir deiner Liebe todtes Glück!" --
So sprach die Nacht und schwieg darauf
Und schaute zu den Sternen auf.
Er aber sah sie traurig an,
Denn ach, er glaubte nicht daran.
Er glaubte nur in seiner Noth
An seines Seelenlebens Tod.
Da winkte sie mit weißer Hand
Ihm einen Gruß noch und verschwand.
Nun war es wieder still um ihn;
Die weißen Nebel sah ich ziehn,
Und droben aus dem Wolkenflor
Trat wunderbar der Mond hervor.
„Horchſt du noch immer, Menſchenkind,
Wie deine Wunde blutend rinnt?
Und willſt du nie nach Todeswehn
Zu neuem Leben auferſtehn?
Sieh, dunkel ſchweigt um dich die Flur,
Und mit dem Tod ringt die Natur.
Doch eh der Thau zum Zweiten fällt,
Erglänzte abermals die Welt;
Und ſchon nach wenig Monden hebt
Ihr Haupt die Erde neubelebt.
Darum beſcheide du dich ſtill
Und harre deß, was kommen will.
Denn deines Lebens goldne Zeit
Ruht noch im Schooß der Ewigkeit.
Und naht ſich einſtmals ihre Stund,
Und küßt dich leiſe auf den Mund,
O, dann kehrt auch ins Herz zurück
Dir deiner Liebe todtes Glück!“ —
So ſprach die Nacht und ſchwieg darauf
Und ſchaute zu den Sternen auf.
Er aber ſah ſie traurig an,
Denn ach, er glaubte nicht daran.
Er glaubte nur in ſeiner Noth
An ſeines Seelenlebens Tod.
Da winkte ſie mit weißer Hand
Ihm einen Gruß noch und verſchwand.
Nun war es wieder ſtill um ihn;
Die weißen Nebel ſah ich ziehn,
Und droben aus dem Wolkenflor
Trat wunderbar der Mond hervor.
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[198/0220] „Horchſt du noch immer, Menſchenkind, Wie deine Wunde blutend rinnt? Und willſt du nie nach Todeswehn Zu neuem Leben auferſtehn? Sieh, dunkel ſchweigt um dich die Flur, Und mit dem Tod ringt die Natur. Doch eh der Thau zum Zweiten fällt, Erglänzte abermals die Welt; Und ſchon nach wenig Monden hebt Ihr Haupt die Erde neubelebt. Darum beſcheide du dich ſtill Und harre deß, was kommen will. Denn deines Lebens goldne Zeit Ruht noch im Schooß der Ewigkeit. Und naht ſich einſtmals ihre Stund, Und küßt dich leiſe auf den Mund, O, dann kehrt auch ins Herz zurück Dir deiner Liebe todtes Glück!“ — So ſprach die Nacht und ſchwieg darauf Und ſchaute zu den Sternen auf. Er aber ſah ſie traurig an, Denn ach, er glaubte nicht daran. Er glaubte nur in ſeiner Noth An ſeines Seelenlebens Tod. Da winkte ſie mit weißer Hand Ihm einen Gruß noch und verſchwand. Nun war es wieder ſtill um ihn; Die weißen Nebel ſah ich ziehn, Und droben aus dem Wolkenflor Trat wunderbar der Mond hervor.

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Zitationshilfe: Holz, Arno: Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich, 1886, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holz_buch_1886/220>, abgerufen am 21.05.2024.