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Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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den Rand ihres Bettes. Es war dies das schmale Ding, in welchem sie vor Jahren als kleines Mädchen geschlafen; denn ihr großes, ganz ebenso breites wie langes Bett, dessen Matratze sie selbst mit wollenen Flicken gefüllt, und dessen Ueberzüge sie gesponnen, gewebt und genäht hatte, war bereits in das Haus Agenore's gebracht worden. Viele Stunden saß Gigia so da, ganz regungslos; nur ein kurzer Schauer ging von Zeit zu Zeit über ihren Körper, und diese Schauer folgten sich häufiger, je näher der Morgen kam. Da plötzlich -- von dem über zwei Miglien entfernten Kloster L'Incontro trug der Ostwind den Klang der Glocke, welcher die Mönche zur Mette rief, bis hierher, und wie der Ton an Gigia's Ohr schlug, stand sie wie erschrocken auf, ging leise zur Thüre, öffnete sie, schlich hinaus, an den Stuben vorüber, wo ihre Mutter und die Brüder schliefen, schob sachte, sachte den Riegel weg, welcher den Hauseingang verschloß, und eilte mit zwei raschen Schritten über den Vorplatz hinaus ins Freie. Hier aber blieb sie stehen, als ob ihr etwas einfiele, was sie nicht bedacht. Ja, sie hatte gestern sagen hören, daß zwei Urballeser Burschen die ganze Nacht hindurch drunten an der Landstraße Wache stehen würden, um gleich ein Zeichen zu geben, falls etwas Verdächtiges sich regte. Denn es hieß, die Valtellaner wollten noch zuletzt die Hochzeit hindern und führten etwas Ungeheuerliches im Schilde, etwas wie einen Ueberfall, eine Brandlegung, eine Brunnenvergiftung.

den Rand ihres Bettes. Es war dies das schmale Ding, in welchem sie vor Jahren als kleines Mädchen geschlafen; denn ihr großes, ganz ebenso breites wie langes Bett, dessen Matratze sie selbst mit wollenen Flicken gefüllt, und dessen Ueberzüge sie gesponnen, gewebt und genäht hatte, war bereits in das Haus Agenore's gebracht worden. Viele Stunden saß Gigia so da, ganz regungslos; nur ein kurzer Schauer ging von Zeit zu Zeit über ihren Körper, und diese Schauer folgten sich häufiger, je näher der Morgen kam. Da plötzlich — von dem über zwei Miglien entfernten Kloster L'Incontro trug der Ostwind den Klang der Glocke, welcher die Mönche zur Mette rief, bis hierher, und wie der Ton an Gigia's Ohr schlug, stand sie wie erschrocken auf, ging leise zur Thüre, öffnete sie, schlich hinaus, an den Stuben vorüber, wo ihre Mutter und die Brüder schliefen, schob sachte, sachte den Riegel weg, welcher den Hauseingang verschloß, und eilte mit zwei raschen Schritten über den Vorplatz hinaus ins Freie. Hier aber blieb sie stehen, als ob ihr etwas einfiele, was sie nicht bedacht. Ja, sie hatte gestern sagen hören, daß zwei Urballeser Burschen die ganze Nacht hindurch drunten an der Landstraße Wache stehen würden, um gleich ein Zeichen zu geben, falls etwas Verdächtiges sich regte. Denn es hieß, die Valtellaner wollten noch zuletzt die Hochzeit hindern und führten etwas Ungeheuerliches im Schilde, etwas wie einen Ueberfall, eine Brandlegung, eine Brunnenvergiftung.

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den Rand ihres Bettes. Es war dies das      schmale Ding, in welchem sie vor Jahren als kleines Mädchen geschlafen; denn ihr großes, ganz      ebenso breites wie langes Bett, dessen Matratze sie selbst mit wollenen Flicken gefüllt, und      dessen Ueberzüge sie gesponnen, gewebt und genäht hatte, war bereits in das Haus Agenore's      gebracht worden. Viele Stunden saß Gigia so da, ganz regungslos; nur ein kurzer Schauer ging      von Zeit zu Zeit über ihren Körper, und diese Schauer folgten sich häufiger, je näher der      Morgen kam. Da plötzlich &#x2014; von dem über zwei Miglien entfernten Kloster L'Incontro trug der      Ostwind den Klang der Glocke, welcher die Mönche zur Mette rief, bis hierher, und wie der Ton      an Gigia's Ohr schlug, stand sie wie erschrocken auf, ging leise zur Thüre, öffnete sie,      schlich hinaus, an den Stuben vorüber, wo ihre Mutter und die Brüder schliefen, schob sachte,      sachte den Riegel weg, welcher den Hauseingang verschloß, und eilte mit zwei raschen Schritten      über den Vorplatz hinaus ins Freie. Hier aber blieb sie stehen, als ob ihr etwas einfiele, was      sie nicht bedacht. Ja, sie hatte gestern sagen hören, daß zwei Urballeser Burschen die ganze      Nacht hindurch drunten an der Landstraße Wache stehen würden, um gleich ein Zeichen zu geben,      falls etwas Verdächtiges sich regte. Denn es hieß, die Valtellaner wollten noch zuletzt die      Hochzeit hindern und führten etwas Ungeheuerliches im Schilde, etwas wie einen Ueberfall, eine      Brandlegung, eine Brunnenvergiftung.<lb/></p>
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[0067] den Rand ihres Bettes. Es war dies das schmale Ding, in welchem sie vor Jahren als kleines Mädchen geschlafen; denn ihr großes, ganz ebenso breites wie langes Bett, dessen Matratze sie selbst mit wollenen Flicken gefüllt, und dessen Ueberzüge sie gesponnen, gewebt und genäht hatte, war bereits in das Haus Agenore's gebracht worden. Viele Stunden saß Gigia so da, ganz regungslos; nur ein kurzer Schauer ging von Zeit zu Zeit über ihren Körper, und diese Schauer folgten sich häufiger, je näher der Morgen kam. Da plötzlich — von dem über zwei Miglien entfernten Kloster L'Incontro trug der Ostwind den Klang der Glocke, welcher die Mönche zur Mette rief, bis hierher, und wie der Ton an Gigia's Ohr schlug, stand sie wie erschrocken auf, ging leise zur Thüre, öffnete sie, schlich hinaus, an den Stuben vorüber, wo ihre Mutter und die Brüder schliefen, schob sachte, sachte den Riegel weg, welcher den Hauseingang verschloß, und eilte mit zwei raschen Schritten über den Vorplatz hinaus ins Freie. Hier aber blieb sie stehen, als ob ihr etwas einfiele, was sie nicht bedacht. Ja, sie hatte gestern sagen hören, daß zwei Urballeser Burschen die ganze Nacht hindurch drunten an der Landstraße Wache stehen würden, um gleich ein Zeichen zu geben, falls etwas Verdächtiges sich regte. Denn es hieß, die Valtellaner wollten noch zuletzt die Hochzeit hindern und führten etwas Ungeheuerliches im Schilde, etwas wie einen Ueberfall, eine Brandlegung, eine Brunnenvergiftung.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:13:28Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:13:28Z)

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Zitationshilfe: Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/horner_saeugling_1910/67>, abgerufen am 04.05.2024.