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Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Sora Maria hatte schon mehr als Eine Braut gesehen, die bei ihrer Hochzeit weinte wie eine geschnittene Rebe, und die drei Tage darauf sang wie eine Cicade. Auch stand ihrer Tochter die Blässe nicht schlecht: niemals war Gigia ihr schöner vorgekommen als jetzt eben, da sie ihr zur Probe den Hochzeitsputz angelegt hatte: das dunkle wollene Kleid, aus dessen besatzlosem Ausschnitte der schlanke, zart ins Gelbliche schimmernde Hals so frisch und voll emporschaute, und um den Hals das Vezzo, die schöne Perlenschnur, welche den werthvollsten Theil der Mitgift ausmachte, und um die feine Hüfte das bunte römische Band mit den langen Fransen. Wohl war das Gesicht blaß, aber die langen dunklen Wimpern dünkten der stolzen Mutter nur um so mehr "wie gemalt", und nun gar der silberne Kranz mit den vergoldeten Blumen im Haar -- konnte man was Lieblicheres schauen? Die Madonna dell' Impruneta ist nicht schöner als du, meine Tochter, sie verzeihe mir die Lästerung! so rief Sora Maria entzückt und zugleich über sich selbst erschrocken, als sie vor der fertiggeschmückten Tochter stand; und nun, Gigia mia, zieh dich aus, -- es ist schon zehn Uhr -- und geh zu Bett und schlaf dich satt, denn morgen ist ein großer Tag, und an welchem du nicht müde sein darfst. Sora Maria gab ihrer Tochter zum letzten Mal den doppelten Gutnachtkuß auf die rechte und die linke Wange -- morgen küßte ein Anderer das liebe Gesicht -- und ging hinaus.

Gigia entkleidete sich nicht, sondern setzte sich auf

Sora Maria hatte schon mehr als Eine Braut gesehen, die bei ihrer Hochzeit weinte wie eine geschnittene Rebe, und die drei Tage darauf sang wie eine Cicade. Auch stand ihrer Tochter die Blässe nicht schlecht: niemals war Gigia ihr schöner vorgekommen als jetzt eben, da sie ihr zur Probe den Hochzeitsputz angelegt hatte: das dunkle wollene Kleid, aus dessen besatzlosem Ausschnitte der schlanke, zart ins Gelbliche schimmernde Hals so frisch und voll emporschaute, und um den Hals das Vezzo, die schöne Perlenschnur, welche den werthvollsten Theil der Mitgift ausmachte, und um die feine Hüfte das bunte römische Band mit den langen Fransen. Wohl war das Gesicht blaß, aber die langen dunklen Wimpern dünkten der stolzen Mutter nur um so mehr „wie gemalt“, und nun gar der silberne Kranz mit den vergoldeten Blumen im Haar — konnte man was Lieblicheres schauen? Die Madonna dell' Impruneta ist nicht schöner als du, meine Tochter, sie verzeihe mir die Lästerung! so rief Sora Maria entzückt und zugleich über sich selbst erschrocken, als sie vor der fertiggeschmückten Tochter stand; und nun, Gigia mia, zieh dich aus, — es ist schon zehn Uhr — und geh zu Bett und schlaf dich satt, denn morgen ist ein großer Tag, und an welchem du nicht müde sein darfst. Sora Maria gab ihrer Tochter zum letzten Mal den doppelten Gutnachtkuß auf die rechte und die linke Wange — morgen küßte ein Anderer das liebe Gesicht — und ging hinaus.

Gigia entkleidete sich nicht, sondern setzte sich auf

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Sora Maria hatte schon mehr als Eine Braut gesehen, die bei ihrer Hochzeit weinte wie eine      geschnittene Rebe, und die drei Tage darauf sang wie eine Cicade. Auch stand ihrer Tochter die      Blässe nicht schlecht: niemals war Gigia ihr schöner vorgekommen als jetzt eben, da sie ihr zur      Probe den Hochzeitsputz angelegt hatte: das dunkle wollene Kleid, aus dessen besatzlosem      Ausschnitte der schlanke, zart ins Gelbliche schimmernde Hals so frisch und voll emporschaute,      und um den Hals das Vezzo, die schöne Perlenschnur, welche den werthvollsten Theil der Mitgift      ausmachte, und um die feine Hüfte das bunte römische Band mit den langen Fransen. Wohl war das      Gesicht blaß, aber die langen dunklen Wimpern dünkten der stolzen Mutter nur um so mehr &#x201E;wie      gemalt&#x201C;, und nun gar der silberne Kranz mit den vergoldeten Blumen im Haar &#x2014; konnte man was      Lieblicheres schauen? Die <hi rendition="#aq">Madonna dell' Impruneta</hi> ist nicht schöner als du, meine Tochter, sie      verzeihe mir die Lästerung! so rief Sora Maria entzückt und zugleich über sich selbst      erschrocken, als sie vor der fertiggeschmückten Tochter stand; und nun, <hi rendition="#aq">Gigia mia,</hi> zieh dich      aus, &#x2014; es ist schon zehn Uhr &#x2014; und geh zu Bett und schlaf dich satt, denn morgen ist ein großer      Tag, und an welchem du nicht müde sein darfst. Sora Maria gab ihrer Tochter zum letzten Mal den      doppelten Gutnachtkuß auf die rechte und die linke Wange &#x2014; morgen küßte ein Anderer das liebe      Gesicht &#x2014; und ging hinaus. </p><lb/>
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[0066] Sora Maria hatte schon mehr als Eine Braut gesehen, die bei ihrer Hochzeit weinte wie eine geschnittene Rebe, und die drei Tage darauf sang wie eine Cicade. Auch stand ihrer Tochter die Blässe nicht schlecht: niemals war Gigia ihr schöner vorgekommen als jetzt eben, da sie ihr zur Probe den Hochzeitsputz angelegt hatte: das dunkle wollene Kleid, aus dessen besatzlosem Ausschnitte der schlanke, zart ins Gelbliche schimmernde Hals so frisch und voll emporschaute, und um den Hals das Vezzo, die schöne Perlenschnur, welche den werthvollsten Theil der Mitgift ausmachte, und um die feine Hüfte das bunte römische Band mit den langen Fransen. Wohl war das Gesicht blaß, aber die langen dunklen Wimpern dünkten der stolzen Mutter nur um so mehr „wie gemalt“, und nun gar der silberne Kranz mit den vergoldeten Blumen im Haar — konnte man was Lieblicheres schauen? Die Madonna dell' Impruneta ist nicht schöner als du, meine Tochter, sie verzeihe mir die Lästerung! so rief Sora Maria entzückt und zugleich über sich selbst erschrocken, als sie vor der fertiggeschmückten Tochter stand; und nun, Gigia mia, zieh dich aus, — es ist schon zehn Uhr — und geh zu Bett und schlaf dich satt, denn morgen ist ein großer Tag, und an welchem du nicht müde sein darfst. Sora Maria gab ihrer Tochter zum letzten Mal den doppelten Gutnachtkuß auf die rechte und die linke Wange — morgen küßte ein Anderer das liebe Gesicht — und ging hinaus. Gigia entkleidete sich nicht, sondern setzte sich auf

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:13:28Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:13:28Z)

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Zitationshilfe: Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/horner_saeugling_1910/66>, abgerufen am 09.11.2024.