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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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ersteht langsam aus ihren Trümmern; der Stadtteil La Trinidad,
in dem ich wohnte, ward über den Haufen geworfen, als ob
eine Mine darunter gesprungen wäre.

Durch das enge Thal und die Nähe der hohen Berge
Avila und Silla erhält die Gegend von Caracas einen ernsten,
düsteren Anstrich, besonders in der kühlsten Jahreszeit, in
den Monaten November und Dezember. Die Morgen sind
dann ausnehmend schön; bei reinem klarem Himmel hat man
die beiden Dome oder abgerundeten Pyramiden der Silla
und den gezackten Kamm des Cerro de Avila vor sich. Aber
gegen Abend trübt sich die Luft; die Berge umziehen sich,
Wolkenstreifen hängen an ihren immergrünen Seiten und
teilen sie gleichsam in übereinander liegende Zonen. Allmäh-
lich verschmelzen diese Zonen, die kalte Luft, die von der
Silla herabkommt, staut sich im engen Thale und verdichtet
die leichten Dünste zu großen flockigen Wolken. Diese Wolken
senken sich oft bis über das Kreuz von Guayra herab und
man sieht sie dicht am Boden gegen La Pastora und das
benachbarte Quartier Trinidad fortziehen. Beim Anblick dieses
Wolkenhimmels meinte ich nicht in einem gemäßigten Thale
der heißen Zone, sondern mitten in Deutschland, auf den
mit Fichten und Lärchen bewachsenen Bergen des Harzes
zu sein.

Aber dieser düstere, schwermütige Charakter der Land-
schaft, dieser Kontrast zwischen dem heiteren Morgen und dem
bedeckten Himmel am Abend ist mitten im Sommer ver-
schwunden. Im Juni und Juli sind die Nächte hell und
ausnehmend schön; die Luft behält fast beständig die den
Hochebenen und hochgelegenen Thälern eigentümliche Reinheit
und Durchsichtigkeit, solange sie ruhig bleibt und der Wind
nicht Schichten von verschiedener Temperatur durcheinander-
wirft. In dieser Sommerzeit prangt die Landschaft, die ich
nur wenige Tage zu Ende Januars in schöner Beleuchtung
gesehen, in ihrer vollen Pracht. Die beiden runden Gipfel
der Silla erscheinen in Caracas fast unter demselben Höhen-
winkel 1 wie der Pik von Tenerifa im Hafen von Orotava.
Die untere Hälfte des Berges ist mit kurzem Rasen bedeckt;
dann kommt die Zone der immergrünen Sträucher, die zur

1 Ich fand auf dem Platze Trinidad die scheinbare Höhe der
Silla 11° 12' 49". Ihr Abstand beträgt etwa 8,7 km.

erſteht langſam aus ihren Trümmern; der Stadtteil La Trinidad,
in dem ich wohnte, ward über den Haufen geworfen, als ob
eine Mine darunter geſprungen wäre.

Durch das enge Thal und die Nähe der hohen Berge
Avila und Silla erhält die Gegend von Caracas einen ernſten,
düſteren Anſtrich, beſonders in der kühlſten Jahreszeit, in
den Monaten November und Dezember. Die Morgen ſind
dann ausnehmend ſchön; bei reinem klarem Himmel hat man
die beiden Dome oder abgerundeten Pyramiden der Silla
und den gezackten Kamm des Cerro de Avila vor ſich. Aber
gegen Abend trübt ſich die Luft; die Berge umziehen ſich,
Wolkenſtreifen hängen an ihren immergrünen Seiten und
teilen ſie gleichſam in übereinander liegende Zonen. Allmäh-
lich verſchmelzen dieſe Zonen, die kalte Luft, die von der
Silla herabkommt, ſtaut ſich im engen Thale und verdichtet
die leichten Dünſte zu großen flockigen Wolken. Dieſe Wolken
ſenken ſich oft bis über das Kreuz von Guayra herab und
man ſieht ſie dicht am Boden gegen La Paſtora und das
benachbarte Quartier Trinidad fortziehen. Beim Anblick dieſes
Wolkenhimmels meinte ich nicht in einem gemäßigten Thale
der heißen Zone, ſondern mitten in Deutſchland, auf den
mit Fichten und Lärchen bewachſenen Bergen des Harzes
zu ſein.

Aber dieſer düſtere, ſchwermütige Charakter der Land-
ſchaft, dieſer Kontraſt zwiſchen dem heiteren Morgen und dem
bedeckten Himmel am Abend iſt mitten im Sommer ver-
ſchwunden. Im Juni und Juli ſind die Nächte hell und
ausnehmend ſchön; die Luft behält faſt beſtändig die den
Hochebenen und hochgelegenen Thälern eigentümliche Reinheit
und Durchſichtigkeit, ſolange ſie ruhig bleibt und der Wind
nicht Schichten von verſchiedener Temperatur durcheinander-
wirft. In dieſer Sommerzeit prangt die Landſchaft, die ich
nur wenige Tage zu Ende Januars in ſchöner Beleuchtung
geſehen, in ihrer vollen Pracht. Die beiden runden Gipfel
der Silla erſcheinen in Caracas faſt unter demſelben Höhen-
winkel 1 wie der Pik von Tenerifa im Hafen von Orotava.
Die untere Hälfte des Berges iſt mit kurzem Raſen bedeckt;
dann kommt die Zone der immergrünen Sträucher, die zur

1 Ich fand auf dem Platze Trinidad die ſcheinbare Höhe der
Silla 11° 12′ 49″. Ihr Abſtand beträgt etwa 8,7 km.
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[110/0118] erſteht langſam aus ihren Trümmern; der Stadtteil La Trinidad, in dem ich wohnte, ward über den Haufen geworfen, als ob eine Mine darunter geſprungen wäre. Durch das enge Thal und die Nähe der hohen Berge Avila und Silla erhält die Gegend von Caracas einen ernſten, düſteren Anſtrich, beſonders in der kühlſten Jahreszeit, in den Monaten November und Dezember. Die Morgen ſind dann ausnehmend ſchön; bei reinem klarem Himmel hat man die beiden Dome oder abgerundeten Pyramiden der Silla und den gezackten Kamm des Cerro de Avila vor ſich. Aber gegen Abend trübt ſich die Luft; die Berge umziehen ſich, Wolkenſtreifen hängen an ihren immergrünen Seiten und teilen ſie gleichſam in übereinander liegende Zonen. Allmäh- lich verſchmelzen dieſe Zonen, die kalte Luft, die von der Silla herabkommt, ſtaut ſich im engen Thale und verdichtet die leichten Dünſte zu großen flockigen Wolken. Dieſe Wolken ſenken ſich oft bis über das Kreuz von Guayra herab und man ſieht ſie dicht am Boden gegen La Paſtora und das benachbarte Quartier Trinidad fortziehen. Beim Anblick dieſes Wolkenhimmels meinte ich nicht in einem gemäßigten Thale der heißen Zone, ſondern mitten in Deutſchland, auf den mit Fichten und Lärchen bewachſenen Bergen des Harzes zu ſein. Aber dieſer düſtere, ſchwermütige Charakter der Land- ſchaft, dieſer Kontraſt zwiſchen dem heiteren Morgen und dem bedeckten Himmel am Abend iſt mitten im Sommer ver- ſchwunden. Im Juni und Juli ſind die Nächte hell und ausnehmend ſchön; die Luft behält faſt beſtändig die den Hochebenen und hochgelegenen Thälern eigentümliche Reinheit und Durchſichtigkeit, ſolange ſie ruhig bleibt und der Wind nicht Schichten von verſchiedener Temperatur durcheinander- wirft. In dieſer Sommerzeit prangt die Landſchaft, die ich nur wenige Tage zu Ende Januars in ſchöner Beleuchtung geſehen, in ihrer vollen Pracht. Die beiden runden Gipfel der Silla erſcheinen in Caracas faſt unter demſelben Höhen- winkel 1 wie der Pik von Tenerifa im Hafen von Orotava. Die untere Hälfte des Berges iſt mit kurzem Raſen bedeckt; dann kommt die Zone der immergrünen Sträucher, die zur 1 Ich fand auf dem Platze Trinidad die ſcheinbare Höhe der Silla 11° 12′ 49″. Ihr Abſtand beträgt etwa 8,7 km.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/118>, abgerufen am 21.11.2024.