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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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12° 1' der Breite gesehen zu haben.1 Wenn die umgebenden
Gipfel die Aussicht nicht beschränkten, müßte man von der
Silla die Küste ostwärts bis zum Morro de Piritu, westwärts
bis zur Punta del Soldado, 45 km unter dem Winde von
Portobello, sehen. Südwärts, dem inneren Lande zu, be-
grenzt die Bergkette, welche Yare und die Savanne von Ocu-
mare vom Thale von Caracas trennt, den Horizont wie ein
Wall, der in der Richtung eines Parallelkreises hinläuft.
Hätte dieser Wall eine Oeffnung, eine Lücke, dergleichen in
den hohen Bergen des Salzburger Landes und der Schweiz
häufig vorkommen, so genösse man hier des merkwürdigsten
Schauspieles. Man sähe durch die Lücke die Llanos, die
weiten Steppen von Calabozo, und da diese Steppen in
gleiche Höhe mit dem Auge des Beobachters aufstiegen, so
übersähe man vom selben Punkte zwei gleichartige Horizonte,
einen Wasser- und einen Landhorizont.

Die westliche abgerundete Spitze der Silla entzog uns
die Aussicht auf die Stadt Caracas; deutlich aber sahen wir
die ihr zunächstliegenden Häuser, die Dörfer Chacao und
Petare, die Kaffeepflanzungen und den Lauf des Guayre,
einen silberglänzenden Wasserfaden. Der schmale Streif be-
bauten Landes stach angenehm ab vom düsteren, wilden Aus-
sehen der umliegenden Gebirge.

Uebersieht man so mit einem Blick diese reiche Land-
schaft, so bedauert man kaum, daß kein Bild vergangener
Zeiten den Einöden der Neuen Welt höheren Reiz gibt.
Ueberall wo in der heißen Zone der von Gebirgen starrende,
mit dichtem Pflanzenwuchs bedeckte Boden sein ursprüngliches
Gepräge behalten hat, erscheint der Mensch nicht mehr als
Mittelpunkt der Schöpfung. Weit entfernt, die Elemente zu
bändigen, hat er vollauf zu thun, sich ihrer Herrschaft zu
entziehen. Die Umwandlungen, welche die Erdoberfläche seit
Jahrhunderten durch die Hand der Wilden erlitten, ver-
schwinden zu nichts gegen das, was das unterirdische Feuer,
die austretenden gewaltigen Ströme, die tobenden Stürme
in wenigen Stunden leisten. Der Kampf der Elemente unter
sich ist das eigentlich Charakteristische der Naturßenerie in der
Neuen Welt. Ein unbewohntes Land kommt dem Reisenden
aus dem kultivierten Europa wie eine Stadt vor, aus der
die Einwohnerschaft ausgezogen. Hat man einmal in Amerika

1 Die Silla liegt unter 10° 31' 5" der Breite.

12° 1′ der Breite geſehen zu haben.1 Wenn die umgebenden
Gipfel die Ausſicht nicht beſchränkten, müßte man von der
Silla die Küſte oſtwärts bis zum Morro de Piritu, weſtwärts
bis zur Punta del Soldado, 45 km unter dem Winde von
Portobello, ſehen. Südwärts, dem inneren Lande zu, be-
grenzt die Bergkette, welche Yare und die Savanne von Ocu-
mare vom Thale von Caracas trennt, den Horizont wie ein
Wall, der in der Richtung eines Parallelkreiſes hinläuft.
Hätte dieſer Wall eine Oeffnung, eine Lücke, dergleichen in
den hohen Bergen des Salzburger Landes und der Schweiz
häufig vorkommen, ſo genöſſe man hier des merkwürdigſten
Schauſpieles. Man ſähe durch die Lücke die Llanos, die
weiten Steppen von Calabozo, und da dieſe Steppen in
gleiche Höhe mit dem Auge des Beobachters aufſtiegen, ſo
überſähe man vom ſelben Punkte zwei gleichartige Horizonte,
einen Waſſer- und einen Landhorizont.

Die weſtliche abgerundete Spitze der Silla entzog uns
die Ausſicht auf die Stadt Caracas; deutlich aber ſahen wir
die ihr zunächſtliegenden Häuſer, die Dörfer Chacao und
Petare, die Kaffeepflanzungen und den Lauf des Guayre,
einen ſilberglänzenden Waſſerfaden. Der ſchmale Streif be-
bauten Landes ſtach angenehm ab vom düſteren, wilden Aus-
ſehen der umliegenden Gebirge.

Ueberſieht man ſo mit einem Blick dieſe reiche Land-
ſchaft, ſo bedauert man kaum, daß kein Bild vergangener
Zeiten den Einöden der Neuen Welt höheren Reiz gibt.
Ueberall wo in der heißen Zone der von Gebirgen ſtarrende,
mit dichtem Pflanzenwuchs bedeckte Boden ſein urſprüngliches
Gepräge behalten hat, erſcheint der Menſch nicht mehr als
Mittelpunkt der Schöpfung. Weit entfernt, die Elemente zu
bändigen, hat er vollauf zu thun, ſich ihrer Herrſchaft zu
entziehen. Die Umwandlungen, welche die Erdoberfläche ſeit
Jahrhunderten durch die Hand der Wilden erlitten, ver-
ſchwinden zu nichts gegen das, was das unterirdiſche Feuer,
die austretenden gewaltigen Ströme, die tobenden Stürme
in wenigen Stunden leiſten. Der Kampf der Elemente unter
ſich iſt das eigentlich Charakteriſtiſche der Naturſzenerie in der
Neuen Welt. Ein unbewohntes Land kommt dem Reiſenden
aus dem kultivierten Europa wie eine Stadt vor, aus der
die Einwohnerſchaft ausgezogen. Hat man einmal in Amerika

1 Die Silla liegt unter 10° 31′ 5″ der Breite.
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[141/0149] 12° 1′ der Breite geſehen zu haben. 1 Wenn die umgebenden Gipfel die Ausſicht nicht beſchränkten, müßte man von der Silla die Küſte oſtwärts bis zum Morro de Piritu, weſtwärts bis zur Punta del Soldado, 45 km unter dem Winde von Portobello, ſehen. Südwärts, dem inneren Lande zu, be- grenzt die Bergkette, welche Yare und die Savanne von Ocu- mare vom Thale von Caracas trennt, den Horizont wie ein Wall, der in der Richtung eines Parallelkreiſes hinläuft. Hätte dieſer Wall eine Oeffnung, eine Lücke, dergleichen in den hohen Bergen des Salzburger Landes und der Schweiz häufig vorkommen, ſo genöſſe man hier des merkwürdigſten Schauſpieles. Man ſähe durch die Lücke die Llanos, die weiten Steppen von Calabozo, und da dieſe Steppen in gleiche Höhe mit dem Auge des Beobachters aufſtiegen, ſo überſähe man vom ſelben Punkte zwei gleichartige Horizonte, einen Waſſer- und einen Landhorizont. Die weſtliche abgerundete Spitze der Silla entzog uns die Ausſicht auf die Stadt Caracas; deutlich aber ſahen wir die ihr zunächſtliegenden Häuſer, die Dörfer Chacao und Petare, die Kaffeepflanzungen und den Lauf des Guayre, einen ſilberglänzenden Waſſerfaden. Der ſchmale Streif be- bauten Landes ſtach angenehm ab vom düſteren, wilden Aus- ſehen der umliegenden Gebirge. Ueberſieht man ſo mit einem Blick dieſe reiche Land- ſchaft, ſo bedauert man kaum, daß kein Bild vergangener Zeiten den Einöden der Neuen Welt höheren Reiz gibt. Ueberall wo in der heißen Zone der von Gebirgen ſtarrende, mit dichtem Pflanzenwuchs bedeckte Boden ſein urſprüngliches Gepräge behalten hat, erſcheint der Menſch nicht mehr als Mittelpunkt der Schöpfung. Weit entfernt, die Elemente zu bändigen, hat er vollauf zu thun, ſich ihrer Herrſchaft zu entziehen. Die Umwandlungen, welche die Erdoberfläche ſeit Jahrhunderten durch die Hand der Wilden erlitten, ver- ſchwinden zu nichts gegen das, was das unterirdiſche Feuer, die austretenden gewaltigen Ströme, die tobenden Stürme in wenigen Stunden leiſten. Der Kampf der Elemente unter ſich iſt das eigentlich Charakteriſtiſche der Naturſzenerie in der Neuen Welt. Ein unbewohntes Land kommt dem Reiſenden aus dem kultivierten Europa wie eine Stadt vor, aus der die Einwohnerſchaft ausgezogen. Hat man einmal in Amerika 1 Die Silla liegt unter 10° 31′ 5″ der Breite.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/149>, abgerufen am 21.11.2024.