Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.im Inneren der Stadt ging vollends das Wasser aus. Das "Den Toten die letzte Ehre zu erweisen, war sowohl "So heftige Stöße, welche in einer Minute 1 die Stadt 1 Die Dauer des Erdbebens, d. h. all der wellenförmigen und
stoßenden Bewegungen (undulacion y trepidacion), welche die furchtbare Katastrophe vom 26. März 1812 herbeiführten, wurde von den einen auf 50 Sekunden, von anderen auf 1 Minute 12 Se- kunden geschätzt. im Inneren der Stadt ging vollends das Waſſer aus. Das „Den Toten die letzte Ehre zu erweiſen, war ſowohl „So heftige Stöße, welche in einer Minute 1 die Stadt 1 Die Dauer des Erdbebens, d. h. all der wellenförmigen und
ſtoßenden Bewegungen (undulacion y trepidacion), welche die furchtbare Kataſtrophe vom 26. März 1812 herbeiführten, wurde von den einen auf 50 Sekunden, von anderen auf 1 Minute 12 Se- kunden geſchätzt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0164" n="156"/> im Inneren der Stadt ging vollends das Waſſer aus. Das<lb/> Erdbeben hatte die Leitungsröhren der Brunnen zertrümmert<lb/> und Erdſtürze hatten die Quellen verſchüttet. Um Waſſer zu<lb/> bekommen, mußte man zum Guayre hinunter, der bedeutend<lb/> angeſchwollen war, und es fehlte an Gefäßen.</p><lb/> <p>„Den Toten die letzte Ehre zu erweiſen, war ſowohl<lb/> ein Werk der Pietät, als bei der Beſorgnis vor Verpeſtung<lb/> der Luft geboten. Da es geradezu unmöglich war, ſo viele<lb/> tauſend halb unter den Trümmern ſteckende Leichen zu be-<lb/> erdigen, ſo wurde eine Kommiſſion beauftragt, ſie zu ver-<lb/> brennen. Man errichtete zwiſchen den Trümmern Scheiter-<lb/> haufen, und die Leichenfeier dauerte mehrere Tage. Im all-<lb/> gemeinen Jammer flüchtete das Volk zur Andacht und zu<lb/> Ceremonien, mit denen es den Zorn des Himmels zu be-<lb/> ſchwichtigen hoffte. Die einen traten zu Bittgängen zu-<lb/> ſammen und ſangen Trauerchöre; andere halb ſinnlos, beich-<lb/> teten laut auf der Straße. Da geſchah auch hier, was in<lb/> der Provinz Quito nach dem furchtbaren Erdbeben vom<lb/> 4. Februar 1797 vorgekommen war: viele Perſonen, die ſeit<lb/> langen Jahren nicht daran gedacht hatten, den Segen der<lb/> Kirche für ihre Verbindung zu ſuchen, ſchloſſen den Bund der<lb/> Ehe; Kinder fanden ihre Eltern, von denen ſie bis jetzt ver-<lb/> leugnet worden; Leute, die niemand eines Betruges beſchuldigt<lb/> hatte, gelobten Erſatz zu leiſten; Familien, die lange in Feind-<lb/> ſchaft gelebt, verſöhnten ſich im Gefühl des gemeinſamen Un-<lb/> glücks.“ Wenn dieſes Gefühl auf die einen verſittlichend<lb/> wirkte und das Herz für das Mitleid aufſchloß, wirkte es in<lb/> anderen das Gegenteil: ſie wurden nur noch hartherziger und<lb/> unmenſchlicher. In großen Unfällen geht in gemeinen Seelen<lb/> leichter der Edelmut verloren als die Kraft; denn es geht im<lb/> Unglück wie bei der wiſſenſchaftlichen Beſchäftigung mit der<lb/> Natur: nur auf die wenigſten wirkt ſie veredelnd, gibt dem<lb/> Gefühl mehr Wärme, den Gedanken höheren Schwung, und<lb/> der ganzen Geſinnung mehr Milde.</p><lb/> <p>„So heftige Stöße, welche in einer Minute <note place="foot" n="1">Die Dauer des Erdbebens, d. h. all der wellenförmigen und<lb/> ſtoßenden Bewegungen (<hi rendition="#aq">undulacion y trepidacion</hi>), welche die<lb/> furchtbare Kataſtrophe vom 26. März 1812 herbeiführten, wurde<lb/> von den einen auf 50 Sekunden, von anderen auf 1 Minute 12 Se-<lb/> kunden geſchätzt.</note> die Stadt<lb/> Caracas über den Haufen warfen, konnten ſich nicht auf einen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [156/0164]
im Inneren der Stadt ging vollends das Waſſer aus. Das
Erdbeben hatte die Leitungsröhren der Brunnen zertrümmert
und Erdſtürze hatten die Quellen verſchüttet. Um Waſſer zu
bekommen, mußte man zum Guayre hinunter, der bedeutend
angeſchwollen war, und es fehlte an Gefäßen.
„Den Toten die letzte Ehre zu erweiſen, war ſowohl
ein Werk der Pietät, als bei der Beſorgnis vor Verpeſtung
der Luft geboten. Da es geradezu unmöglich war, ſo viele
tauſend halb unter den Trümmern ſteckende Leichen zu be-
erdigen, ſo wurde eine Kommiſſion beauftragt, ſie zu ver-
brennen. Man errichtete zwiſchen den Trümmern Scheiter-
haufen, und die Leichenfeier dauerte mehrere Tage. Im all-
gemeinen Jammer flüchtete das Volk zur Andacht und zu
Ceremonien, mit denen es den Zorn des Himmels zu be-
ſchwichtigen hoffte. Die einen traten zu Bittgängen zu-
ſammen und ſangen Trauerchöre; andere halb ſinnlos, beich-
teten laut auf der Straße. Da geſchah auch hier, was in
der Provinz Quito nach dem furchtbaren Erdbeben vom
4. Februar 1797 vorgekommen war: viele Perſonen, die ſeit
langen Jahren nicht daran gedacht hatten, den Segen der
Kirche für ihre Verbindung zu ſuchen, ſchloſſen den Bund der
Ehe; Kinder fanden ihre Eltern, von denen ſie bis jetzt ver-
leugnet worden; Leute, die niemand eines Betruges beſchuldigt
hatte, gelobten Erſatz zu leiſten; Familien, die lange in Feind-
ſchaft gelebt, verſöhnten ſich im Gefühl des gemeinſamen Un-
glücks.“ Wenn dieſes Gefühl auf die einen verſittlichend
wirkte und das Herz für das Mitleid aufſchloß, wirkte es in
anderen das Gegenteil: ſie wurden nur noch hartherziger und
unmenſchlicher. In großen Unfällen geht in gemeinen Seelen
leichter der Edelmut verloren als die Kraft; denn es geht im
Unglück wie bei der wiſſenſchaftlichen Beſchäftigung mit der
Natur: nur auf die wenigſten wirkt ſie veredelnd, gibt dem
Gefühl mehr Wärme, den Gedanken höheren Schwung, und
der ganzen Geſinnung mehr Milde.
„So heftige Stöße, welche in einer Minute 1 die Stadt
Caracas über den Haufen warfen, konnten ſich nicht auf einen
1 Die Dauer des Erdbebens, d. h. all der wellenförmigen und
ſtoßenden Bewegungen (undulacion y trepidacion), welche die
furchtbare Kataſtrophe vom 26. März 1812 herbeiführten, wurde
von den einen auf 50 Sekunden, von anderen auf 1 Minute 12 Se-
kunden geſchätzt.
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