Villa de Cura, verschwindet im Gestein, kommt wieder zu Tage und wird noch einmal unterirdisch, ohne den See von Valencia zu erreichen, auf den er zuläuft. Cura gleicht viel mehr einem Dorfe als einer Stadt. Die Bevölkerung beträgt nicht mehr als 4000 Seelen, aber wir fanden daselbst mehrere Leute von bedeutender geistiger Bildung. Wir wohnten bei einer Familie, welche nach der Revolution von Caracas im Jahre 1797 von der Regierung verfolgt worden war. Einer der Söhne war nach langer Gefangenschaft nach der Havana gebracht worden, wo er in einem festen Schlosse saß. Wie freute sich die Mutter, als sie hörte, daß wir auf dem Rückwege vom Ori- noko nach der Havana kommen würden! Sie übergab mir fünf Piaster, "all ihr Erspartes". Gerne hätte ich sie ihr zurückgegeben, aber wie hätte ich mich nicht scheuen sollen, ihr Zartgefühl zu verletzen, einer Mutter wehe zu thun, die in den Entbehrungen, die sie sich auferlegt, sich glücklich fühlt! Die ganze Gesellschaft der Stadt fand sich abends zusammen, um in einem Guckkasten die Ansichten der großen europäischen Städte zu bewundern. Wir bekamen die Tuilerien zu sehen und das Standbild des großen Kurfürsten in Berlin. Es ist ein eigenes Gefühl, seine Vaterstadt, 9000 km von ihr ent- fernt, in einem Guckkasten zu erblicken.
Ein Apotheker, der durch den unseligen Hang zu berg- männischen Unternehmungen heruntergekommen war, begleitete uns zum Serro de Chacao, der an goldhaltigen Kiesen sehr reich ist. Der Weg läuft immer am südlichen Abhange der Küstenkordillere hinab, in welcher die Ebenen von Aragua ein Längenthal bilden. Die Nacht des 11. brachten wir zum Teil im Dorfe San Juan zu, bekannt wegen seiner warmen Quellen und der sonderbaren Gestalt zweier benachbarten Berge, der sogenannten Morros de San Juan. Diese Kuppen bilden steile Gipfel, die sich auf einer Felsmauer von sehr breiter Basis erheben. Die Mauer fällt steil ab und gleicht der Teufelsmauer, die um einen Strich des Harz- gebirges herläuft. Diese Kuppen sieht man sehr weit in den Llanos, sie machen starken Eindruck auf die Einbildungskraft der Bewohner der Ebenen, die an gar keine Unebenheit des Bodens gewöhnt sind, und so kommt es, daß ihre Höhe im Lande gewaltig überschätzt wird. Sie sollten, wie man uns gesagt, mitten in den Steppen liegen, während sie sich am nördlichen Saume derselben befinden, weit jenseits einer Hügel- kette, die La Galera heißt. Nach Winkeln, die im Abstande
Villa de Cura, verſchwindet im Geſtein, kommt wieder zu Tage und wird noch einmal unterirdiſch, ohne den See von Valencia zu erreichen, auf den er zuläuft. Cura gleicht viel mehr einem Dorfe als einer Stadt. Die Bevölkerung beträgt nicht mehr als 4000 Seelen, aber wir fanden daſelbſt mehrere Leute von bedeutender geiſtiger Bildung. Wir wohnten bei einer Familie, welche nach der Revolution von Caracas im Jahre 1797 von der Regierung verfolgt worden war. Einer der Söhne war nach langer Gefangenſchaft nach der Havana gebracht worden, wo er in einem feſten Schloſſe ſaß. Wie freute ſich die Mutter, als ſie hörte, daß wir auf dem Rückwege vom Ori- noko nach der Havana kommen würden! Sie übergab mir fünf Piaſter, „all ihr Erſpartes“. Gerne hätte ich ſie ihr zurückgegeben, aber wie hätte ich mich nicht ſcheuen ſollen, ihr Zartgefühl zu verletzen, einer Mutter wehe zu thun, die in den Entbehrungen, die ſie ſich auferlegt, ſich glücklich fühlt! Die ganze Geſellſchaft der Stadt fand ſich abends zuſammen, um in einem Guckkaſten die Anſichten der großen europäiſchen Städte zu bewundern. Wir bekamen die Tuilerien zu ſehen und das Standbild des großen Kurfürſten in Berlin. Es iſt ein eigenes Gefühl, ſeine Vaterſtadt, 9000 km von ihr ent- fernt, in einem Guckkaſten zu erblicken.
Ein Apotheker, der durch den unſeligen Hang zu berg- männiſchen Unternehmungen heruntergekommen war, begleitete uns zum Serro de Chacao, der an goldhaltigen Kieſen ſehr reich iſt. Der Weg läuft immer am ſüdlichen Abhange der Küſtenkordillere hinab, in welcher die Ebenen von Aragua ein Längenthal bilden. Die Nacht des 11. brachten wir zum Teil im Dorfe San Juan zu, bekannt wegen ſeiner warmen Quellen und der ſonderbaren Geſtalt zweier benachbarten Berge, der ſogenannten Morros de San Juan. Dieſe Kuppen bilden ſteile Gipfel, die ſich auf einer Felsmauer von ſehr breiter Baſis erheben. Die Mauer fällt ſteil ab und gleicht der Teufelsmauer, die um einen Strich des Harz- gebirges herläuft. Dieſe Kuppen ſieht man ſehr weit in den Llanos, ſie machen ſtarken Eindruck auf die Einbildungskraft der Bewohner der Ebenen, die an gar keine Unebenheit des Bodens gewöhnt ſind, und ſo kommt es, daß ihre Höhe im Lande gewaltig überſchätzt wird. Sie ſollten, wie man uns geſagt, mitten in den Steppen liegen, während ſie ſich am nördlichen Saume derſelben befinden, weit jenſeits einer Hügel- kette, die La Galera heißt. Nach Winkeln, die im Abſtande
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Villa de Cura, verſchwindet im Geſtein, kommt wieder zu Tage
und wird noch einmal unterirdiſch, ohne den See von Valencia
zu erreichen, auf den er zuläuft. Cura gleicht viel mehr einem
Dorfe als einer Stadt. Die Bevölkerung beträgt nicht mehr
als 4000 Seelen, aber wir fanden daſelbſt mehrere Leute von
bedeutender geiſtiger Bildung. Wir wohnten bei einer Familie,
welche nach der Revolution von Caracas im Jahre 1797 von
der Regierung verfolgt worden war. Einer der Söhne war
nach langer Gefangenſchaft nach der Havana gebracht worden,
wo er in einem feſten Schloſſe ſaß. Wie freute ſich die
Mutter, als ſie hörte, daß wir auf dem Rückwege vom Ori-
noko nach der Havana kommen würden! Sie übergab mir
fünf Piaſter, „all ihr Erſpartes“. Gerne hätte ich ſie ihr
zurückgegeben, aber wie hätte ich mich nicht ſcheuen ſollen, ihr
Zartgefühl zu verletzen, einer Mutter wehe zu thun, die in
den Entbehrungen, die ſie ſich auferlegt, ſich glücklich fühlt!
Die ganze Geſellſchaft der Stadt fand ſich abends zuſammen,
um in einem Guckkaſten die Anſichten der großen europäiſchen
Städte zu bewundern. Wir bekamen die Tuilerien zu ſehen
und das Standbild des großen Kurfürſten in Berlin. Es iſt
ein eigenes Gefühl, ſeine Vaterſtadt, 9000 km von ihr ent-
fernt, in einem Guckkaſten zu erblicken.
Ein Apotheker, der durch den unſeligen Hang zu berg-
männiſchen Unternehmungen heruntergekommen war, begleitete
uns zum Serro de Chacao, der an goldhaltigen Kieſen ſehr
reich iſt. Der Weg läuft immer am ſüdlichen Abhange der
Küſtenkordillere hinab, in welcher die Ebenen von Aragua ein
Längenthal bilden. Die Nacht des 11. brachten wir zum
Teil im Dorfe San Juan zu, bekannt wegen ſeiner warmen
Quellen und der ſonderbaren Geſtalt zweier benachbarten
Berge, der ſogenannten Morros de San Juan. Dieſe
Kuppen bilden ſteile Gipfel, die ſich auf einer Felsmauer von
ſehr breiter Baſis erheben. Die Mauer fällt ſteil ab und
gleicht der Teufelsmauer, die um einen Strich des Harz-
gebirges herläuft. Dieſe Kuppen ſieht man ſehr weit in den
Llanos, ſie machen ſtarken Eindruck auf die Einbildungskraft
der Bewohner der Ebenen, die an gar keine Unebenheit des
Bodens gewöhnt ſind, und ſo kommt es, daß ihre Höhe im
Lande gewaltig überſchätzt wird. Sie ſollten, wie man uns
geſagt, mitten in den Steppen liegen, während ſie ſich am
nördlichen Saume derſelben befinden, weit jenſeits einer Hügel-
kette, die La Galera heißt. Nach Winkeln, die im Abſtande
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/273>, abgerufen am 15.06.2024.
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