dem Mississippi, schwimmenden Wiesen, den Chinampas1 der mexikanischen Seen. Wenn die Indianer eine feindliche Horde überfallen wollen, binden sie mehrere Kanoen mit Stricken zusammen, bedecken sie mit Kräutern Baumzweigen und bilden so die Haufen von Bäumen nach, die der Orinoko auf seinem Thalweg abwärts treibt. Man sagt den Kariben nach, sie seien früher in dieser Kriegslist ausgezeichnet ge- wesen, und gegenwärtig bedienen sich die spanischen Schmuggler in der Nähe von Angostura desselben Mittels, um die Zoll- aufseher hinter das Licht zu führen.
Oberhalb des Rio Anaveni, zwischen den Bergen von Uniana und Sipapu, kommt man zu den Katarakten von Mapara und Quituna, oder wie die Missionäre gemeiniglich sagen, zu den Raudales von Atures und Maypures. Diese beiden vom einen zum anderen Ufer laufenden Stromsperren geben im großen ungefähr dasselbe Bild: zwischen zahllosen Inseln, Felsdämmen, aufeinander getürmten, mit Palmen be- wachsenen Granitblöcken löst sich einer der größten Ströme der Neuen Welt in Schaum auf. Trotz dieser Uebereinstim- mung im Aussehen hat jeder der Fälle seinen eigentümlichen Charakter. Der erste, nördliche, ist bei niedrigem Wasser leichter zu passieren; beim zweiten, dem von Maypures, ist den In- dianern die Zeit des Hochwassers lieber. Oberhalb Maypures und der Einmündung des Canno Cameji ist der Orinoko wieder frei auf einer Strecke von mehr als 760 km, bis in die Nähe seiner Quellen, das heißt bis zum Raudalito der Guaharibos, ostwärts vom Canno Chiguire und den hohen Bergen von Yumariquin.
Ich habe die beiden Becken des Orinoko und des Ama- zonenstromes besucht, und es fiel mir ungemein auf, wie ver- schieden sie sich auf ihrem ungleich langen Laufe verhalten. Beim Amazonenstrom, der gegen 1820 km lang ist, sind die großen Fälle ziemlich nahe bei den Quellen, im ersten Sechs- teil der ganzen Länge; fünf Sechsteile seines Laufes sind vollkommen frei. Beim Orinoko sind die Fälle, weit un- günstiger für die Schiffahrt, wenn nicht in der Mitte, doch unterhalb des ersten Dritteils seiner Länge gelegen. Bei beiden Strömen werden die Fälle nicht durch die Berge, nicht durch die Stufen der übereinander liegenden Plateaus, wo sie entspringen, gebildet, sondern durch andere Berge, durch
1 Schwimmende Gärten.
dem Miſſiſſippi, ſchwimmenden Wieſen, den Chinampas1 der mexikaniſchen Seen. Wenn die Indianer eine feindliche Horde überfallen wollen, binden ſie mehrere Kanoen mit Stricken zuſammen, bedecken ſie mit Kräutern Baumzweigen und bilden ſo die Haufen von Bäumen nach, die der Orinoko auf ſeinem Thalweg abwärts treibt. Man ſagt den Kariben nach, ſie ſeien früher in dieſer Kriegsliſt ausgezeichnet ge- weſen, und gegenwärtig bedienen ſich die ſpaniſchen Schmuggler in der Nähe von Angoſtura desſelben Mittels, um die Zoll- aufſeher hinter das Licht zu führen.
Oberhalb des Rio Anaveni, zwiſchen den Bergen von Uniana und Sipapu, kommt man zu den Katarakten von Mapara und Quituna, oder wie die Miſſionäre gemeiniglich ſagen, zu den Raudales von Atures und Maypures. Dieſe beiden vom einen zum anderen Ufer laufenden Stromſperren geben im großen ungefähr dasſelbe Bild: zwiſchen zahlloſen Inſeln, Felsdämmen, aufeinander getürmten, mit Palmen be- wachſenen Granitblöcken löſt ſich einer der größten Ströme der Neuen Welt in Schaum auf. Trotz dieſer Uebereinſtim- mung im Ausſehen hat jeder der Fälle ſeinen eigentümlichen Charakter. Der erſte, nördliche, iſt bei niedrigem Waſſer leichter zu paſſieren; beim zweiten, dem von Maypures, iſt den In- dianern die Zeit des Hochwaſſers lieber. Oberhalb Maypures und der Einmündung des Caño Cameji iſt der Orinoko wieder frei auf einer Strecke von mehr als 760 km, bis in die Nähe ſeiner Quellen, das heißt bis zum Raudalito der Guaharibos, oſtwärts vom Caño Chiguire und den hohen Bergen von Yumariquin.
Ich habe die beiden Becken des Orinoko und des Ama- zonenſtromes beſucht, und es fiel mir ungemein auf, wie ver- ſchieden ſie ſich auf ihrem ungleich langen Laufe verhalten. Beim Amazonenſtrom, der gegen 1820 km lang iſt, ſind die großen Fälle ziemlich nahe bei den Quellen, im erſten Sechs- teil der ganzen Länge; fünf Sechsteile ſeines Laufes ſind vollkommen frei. Beim Orinoko ſind die Fälle, weit un- günſtiger für die Schiffahrt, wenn nicht in der Mitte, doch unterhalb des erſten Dritteils ſeiner Länge gelegen. Bei beiden Strömen werden die Fälle nicht durch die Berge, nicht durch die Stufen der übereinander liegenden Plateaus, wo ſie entſpringen, gebildet, ſondern durch andere Berge, durch
1 Schwimmende Gärten.
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dem Miſſiſſippi, ſchwimmenden Wieſen, den Chinampas 1
der mexikaniſchen Seen. Wenn die Indianer eine feindliche
Horde überfallen wollen, binden ſie mehrere Kanoen mit
Stricken zuſammen, bedecken ſie mit Kräutern Baumzweigen
und bilden ſo die Haufen von Bäumen nach, die der Orinoko
auf ſeinem Thalweg abwärts treibt. Man ſagt den Kariben
nach, ſie ſeien früher in dieſer Kriegsliſt ausgezeichnet ge-
weſen, und gegenwärtig bedienen ſich die ſpaniſchen Schmuggler
in der Nähe von Angoſtura desſelben Mittels, um die Zoll-
aufſeher hinter das Licht zu führen.
Oberhalb des Rio Anaveni, zwiſchen den Bergen von
Uniana und Sipapu, kommt man zu den Katarakten von
Mapara und Quituna, oder wie die Miſſionäre gemeiniglich
ſagen, zu den Raudales von Atures und Maypures. Dieſe
beiden vom einen zum anderen Ufer laufenden Stromſperren
geben im großen ungefähr dasſelbe Bild: zwiſchen zahlloſen
Inſeln, Felsdämmen, aufeinander getürmten, mit Palmen be-
wachſenen Granitblöcken löſt ſich einer der größten Ströme
der Neuen Welt in Schaum auf. Trotz dieſer Uebereinſtim-
mung im Ausſehen hat jeder der Fälle ſeinen eigentümlichen
Charakter. Der erſte, nördliche, iſt bei niedrigem Waſſer leichter
zu paſſieren; beim zweiten, dem von Maypures, iſt den In-
dianern die Zeit des Hochwaſſers lieber. Oberhalb Maypures
und der Einmündung des Caño Cameji iſt der Orinoko wieder
frei auf einer Strecke von mehr als 760 km, bis in die Nähe
ſeiner Quellen, das heißt bis zum Raudalito der Guaharibos,
oſtwärts vom Caño Chiguire und den hohen Bergen von
Yumariquin.
Ich habe die beiden Becken des Orinoko und des Ama-
zonenſtromes beſucht, und es fiel mir ungemein auf, wie ver-
ſchieden ſie ſich auf ihrem ungleich langen Laufe verhalten.
Beim Amazonenſtrom, der gegen 1820 km lang iſt, ſind die
großen Fälle ziemlich nahe bei den Quellen, im erſten Sechs-
teil der ganzen Länge; fünf Sechsteile ſeines Laufes ſind
vollkommen frei. Beim Orinoko ſind die Fälle, weit un-
günſtiger für die Schiffahrt, wenn nicht in der Mitte, doch
unterhalb des erſten Dritteils ſeiner Länge gelegen. Bei
beiden Strömen werden die Fälle nicht durch die Berge, nicht
durch die Stufen der übereinander liegenden Plateaus, wo
ſie entſpringen, gebildet, ſondern durch andere Berge, durch
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/126>, abgerufen am 16.07.2024.
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