Flüsse, vor einem Feinde, der sie von allen Seiten umzingelt. Den Tag über werden Pferde, Maultiere und Rinder von Bremsen und Moskiten gepeinigt und bei Nacht von unge- heuren Fledermäusen angefallen, die sich in ihren Rücken ein- krallen und ihnen desto schlimmere Wunden beibringen, da alsbald Milben und andere bösartige Insekten in Menge hineinkommen. Zur Zeit der großen Dürre benagen die Maul- tiere sogar den ganz mit Stacheln besetzten Melokaktus,1 um zum erfrischenden Saft und so gleichsam zu einer vegetabi- lischen Wasserquelle zu gelangen. Während der großen Ueber- schwemmungen leben dieselben Tiere wahrhaft amphibisch, in Gesellschaft von Krokodilen, Wasserschlangen und Seekühen. Und dennoch erhält sich, nach den unabänderlichen Gesetzen der Natur, ihre Stammart im Kampf mit den Elementen, mitten unter zahllosen Plagen und Gefahren. Fällt das Wasser wieder, kehren die Flüsse in ihre Betten zurück, so überzieht sich die Savanne mit zartem, angenehm duftendem Gras, und im Herzen des heißen Landstrichs scheinen die Tiere des alten Europas und Hochasiens in ihr Heimatland versetzt zu sein und sich des neuen Frühlingsgrüns zu freuen.
Während des hohen Wasserstandes gehen die Bewohner dieser Länder, um die starke Strömung und die gefährlichen Baumstämme, die sie treibt, zu vermeiden, in ihren Kanoen nicht in den Flußbetten hinauf, sondern fahren über die Gras- fluren. Will man von San Fernando nach den Dörfern San Juan de Payara, San Raphael de Atamaica oder San Fran- cisco de Capanaparo, wendet man sich gerade nach Süd, als führe man auf einem einzigen 90 km breiten Strome. Die Flüsse Guarico, Apure, Cabullare und Arauca bilden da, wo sie sich in den Orinoko ergießen, 720 km von der Küste von Guyana, eine Art Binnendelta, dergleichen die Hydro- graphie in der Alten Welt wenige aufzuweisen hat. Nach der Höhe des Quecksilbers im Barometer hat der Apure von San Fernando bis zur See nur ein Gefälle von 66 m. Dieser Fall ist so unbedeutend als der von der Einmündung des Osageflusses und des Missouri in den Mississippi bis zur Barre desselben. Die Savannen in Niederlouisiana erinnern
1 Ganz besonders geschickt wissen die Esel sich die Feuchtigkeit im Inneren des Cactus melocactus zu nutze zu machen. Sie stoßen die Stacheln mit den Füßen ab, und man sieht welche infolge dieses Verfahrens hinken.
Flüſſe, vor einem Feinde, der ſie von allen Seiten umzingelt. Den Tag über werden Pferde, Maultiere und Rinder von Bremſen und Moskiten gepeinigt und bei Nacht von unge- heuren Fledermäuſen angefallen, die ſich in ihren Rücken ein- krallen und ihnen deſto ſchlimmere Wunden beibringen, da alsbald Milben und andere bösartige Inſekten in Menge hineinkommen. Zur Zeit der großen Dürre benagen die Maul- tiere ſogar den ganz mit Stacheln beſetzten Melokaktus,1 um zum erfriſchenden Saft und ſo gleichſam zu einer vegetabi- liſchen Waſſerquelle zu gelangen. Während der großen Ueber- ſchwemmungen leben dieſelben Tiere wahrhaft amphibiſch, in Geſellſchaft von Krokodilen, Waſſerſchlangen und Seekühen. Und dennoch erhält ſich, nach den unabänderlichen Geſetzen der Natur, ihre Stammart im Kampf mit den Elementen, mitten unter zahlloſen Plagen und Gefahren. Fällt das Waſſer wieder, kehren die Flüſſe in ihre Betten zurück, ſo überzieht ſich die Savanne mit zartem, angenehm duftendem Gras, und im Herzen des heißen Landſtrichs ſcheinen die Tiere des alten Europas und Hochaſiens in ihr Heimatland verſetzt zu ſein und ſich des neuen Frühlingsgrüns zu freuen.
Während des hohen Waſſerſtandes gehen die Bewohner dieſer Länder, um die ſtarke Strömung und die gefährlichen Baumſtämme, die ſie treibt, zu vermeiden, in ihren Kanoen nicht in den Flußbetten hinauf, ſondern fahren über die Gras- fluren. Will man von San Fernando nach den Dörfern San Juan de Payara, San Raphael de Atamaica oder San Fran- cisco de Capanaparo, wendet man ſich gerade nach Süd, als führe man auf einem einzigen 90 km breiten Strome. Die Flüſſe Guarico, Apure, Cabullare und Arauca bilden da, wo ſie ſich in den Orinoko ergießen, 720 km von der Küſte von Guyana, eine Art Binnendelta, dergleichen die Hydro- graphie in der Alten Welt wenige aufzuweiſen hat. Nach der Höhe des Queckſilbers im Barometer hat der Apure von San Fernando bis zur See nur ein Gefälle von 66 m. Dieſer Fall iſt ſo unbedeutend als der von der Einmündung des Oſagefluſſes und des Miſſouri in den Miſſiſſippi bis zur Barre desſelben. Die Savannen in Niederlouiſiana erinnern
1 Ganz beſonders geſchickt wiſſen die Eſel ſich die Feuchtigkeit im Inneren des Cactus melocactus zu nutze zu machen. Sie ſtoßen die Stacheln mit den Füßen ab, und man ſieht welche infolge dieſes Verfahrens hinken.
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Flüſſe, vor einem Feinde, der ſie von allen Seiten umzingelt.
Den Tag über werden Pferde, Maultiere und Rinder von
Bremſen und Moskiten gepeinigt und bei Nacht von unge-
heuren Fledermäuſen angefallen, die ſich in ihren Rücken ein-
krallen und ihnen deſto ſchlimmere Wunden beibringen, da
alsbald Milben und andere bösartige Inſekten in Menge
hineinkommen. Zur Zeit der großen Dürre benagen die Maul-
tiere ſogar den ganz mit Stacheln beſetzten Melokaktus, 1 um
zum erfriſchenden Saft und ſo gleichſam zu einer vegetabi-
liſchen Waſſerquelle zu gelangen. Während der großen Ueber-
ſchwemmungen leben dieſelben Tiere wahrhaft amphibiſch, in
Geſellſchaft von Krokodilen, Waſſerſchlangen und Seekühen.
Und dennoch erhält ſich, nach den unabänderlichen Geſetzen
der Natur, ihre Stammart im Kampf mit den Elementen,
mitten unter zahlloſen Plagen und Gefahren. Fällt das
Waſſer wieder, kehren die Flüſſe in ihre Betten zurück, ſo
überzieht ſich die Savanne mit zartem, angenehm duftendem
Gras, und im Herzen des heißen Landſtrichs ſcheinen die Tiere
des alten Europas und Hochaſiens in ihr Heimatland verſetzt
zu ſein und ſich des neuen Frühlingsgrüns zu freuen.
Während des hohen Waſſerſtandes gehen die Bewohner
dieſer Länder, um die ſtarke Strömung und die gefährlichen
Baumſtämme, die ſie treibt, zu vermeiden, in ihren Kanoen
nicht in den Flußbetten hinauf, ſondern fahren über die Gras-
fluren. Will man von San Fernando nach den Dörfern San
Juan de Payara, San Raphael de Atamaica oder San Fran-
cisco de Capanaparo, wendet man ſich gerade nach Süd, als
führe man auf einem einzigen 90 km breiten Strome. Die
Flüſſe Guarico, Apure, Cabullare und Arauca bilden da, wo
ſie ſich in den Orinoko ergießen, 720 km von der Küſte von
Guyana, eine Art Binnendelta, dergleichen die Hydro-
graphie in der Alten Welt wenige aufzuweiſen hat. Nach der
Höhe des Queckſilbers im Barometer hat der Apure von San
Fernando bis zur See nur ein Gefälle von 66 m. Dieſer
Fall iſt ſo unbedeutend als der von der Einmündung des
Oſagefluſſes und des Miſſouri in den Miſſiſſippi bis zur
Barre desſelben. Die Savannen in Niederlouiſiana erinnern
1 Ganz beſonders geſchickt wiſſen die Eſel ſich die Feuchtigkeit
im Inneren des Cactus melocactus zu nutze zu machen. Sie ſtoßen
die Stacheln mit den Füßen ab, und man ſieht welche infolge
dieſes Verfahrens hinken.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/14>, abgerufen am 16.07.2024.
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