Hinter diesen Bergen am Sipapo lebte lange Cruzero, der mächtige Häuptling der Guaypunabis, nachdem er mit seiner kriegerischen Horde von den Ebenen zwischen dem Rio Irinida und dem Chamochiquini abgezogen war. Die In- dianer versicherten uns, in den Wäldern am Sipapo wachse in Menge der Vehuco de Maimure. Dieses Schling- gewächs ist den Indianern sehr wichtig, weil sie Körbe und Matten daraus verfertigen. Die Wälder am Sipapo sind völlig unbekannt, und die Missionäre versetzen hierher das Volk der Rayas,1 "die den Mund am Nabel haben". Ein alter Indianer, den wir in Carichana antrafen und der sich rühmte oft Menschenfleisch gegessen zu haben, hatte diese kopflosen Menschen "mit eigenen Augen" gesehen. Diese abgeschmackten Märchen haben sich auch in den Llanos verbreitet, und dort ist es nicht immer geraten, die Existenz der Rayas-Indianer in Zweifel zu ziehen. In allen Himmelsstrichen ist Unduld- samkeit die Gefährtin der Leichtgläubigkeit, und man könnte meinen, die Hirngespinnste der alten Erdbeschreiber seien aus der einen Halbkugel in die andere gewandert, wenn man nicht wüßte, daß die seltsamsten Ausgeburten der Phantasie, gerade wie die Naturbildungen, überall in Aussehen und Gestaltung eine gewisse Aehnlichkeit zeigen.
Bei der Mündung des Rio Vichada oder Visata stiegen wir aus, um die Pflanzen des Landstriches zu untersuchen. Die Gegend ist höchst merkwürdig; der Wald ist nicht sehr dicht und eine Unzahl kleiner Felsen steht frei auf der Ebene. Es sind prismatische Steinmassen und sie sehen wie verfallene Pfeiler, wie einzeln stehende 5 bis 7 m hohe Türmchen aus. Die einen sind von den Bäumen des Waldes beschattet, bei anderen ist der Gipfel von Palmen gekrönt. Die Felsen sind Granit, der in Gneis übergeht. Befände man sich hier nicht im Bereich des Urgebirges, man glaubte sich in den Felsen von Adersbach in Böhmen oder von Streitberg und Fantasie in Franken versetzt. Sandstein und sekundärer Kalkstein können keine groteskeren Formen annehmen. An der Mündung des Vichada sind die Granitfelsen, und was noch weit auffallender ist, der Boden selbst mit Mosen und Flechten bedeckt. Letztere haben den Habitus von Cladonia pyxidata und Lichen ran- giferinus, die im nördlichen Europa so häufig vorkommen.
1Rochen, wegen der angeblichen Aehnlichkeit mit dem Fisch dieses Namens, bei dem der Mund am Körper herabgerückt scheint.
Hinter dieſen Bergen am Sipapo lebte lange Cruzero, der mächtige Häuptling der Guaypunabis, nachdem er mit ſeiner kriegeriſchen Horde von den Ebenen zwiſchen dem Rio Irinida und dem Chamochiquini abgezogen war. Die In- dianer verſicherten uns, in den Wäldern am Sipapo wachſe in Menge der Vehuco de Maimure. Dieſes Schling- gewächs iſt den Indianern ſehr wichtig, weil ſie Körbe und Matten daraus verfertigen. Die Wälder am Sipapo ſind völlig unbekannt, und die Miſſionäre verſetzen hierher das Volk der Rayas,1 „die den Mund am Nabel haben“. Ein alter Indianer, den wir in Carichana antrafen und der ſich rühmte oft Menſchenfleiſch gegeſſen zu haben, hatte dieſe kopfloſen Menſchen „mit eigenen Augen“ geſehen. Dieſe abgeſchmackten Märchen haben ſich auch in den Llanos verbreitet, und dort iſt es nicht immer geraten, die Exiſtenz der Rayas-Indianer in Zweifel zu ziehen. In allen Himmelsſtrichen iſt Unduld- ſamkeit die Gefährtin der Leichtgläubigkeit, und man könnte meinen, die Hirngeſpinnſte der alten Erdbeſchreiber ſeien aus der einen Halbkugel in die andere gewandert, wenn man nicht wüßte, daß die ſeltſamſten Ausgeburten der Phantaſie, gerade wie die Naturbildungen, überall in Ausſehen und Geſtaltung eine gewiſſe Aehnlichkeit zeigen.
Bei der Mündung des Rio Vichada oder Viſata ſtiegen wir aus, um die Pflanzen des Landſtriches zu unterſuchen. Die Gegend iſt höchſt merkwürdig; der Wald iſt nicht ſehr dicht und eine Unzahl kleiner Felſen ſteht frei auf der Ebene. Es ſind prismatiſche Steinmaſſen und ſie ſehen wie verfallene Pfeiler, wie einzeln ſtehende 5 bis 7 m hohe Türmchen aus. Die einen ſind von den Bäumen des Waldes beſchattet, bei anderen iſt der Gipfel von Palmen gekrönt. Die Felſen ſind Granit, der in Gneis übergeht. Befände man ſich hier nicht im Bereich des Urgebirges, man glaubte ſich in den Felſen von Adersbach in Böhmen oder von Streitberg und Fantaſie in Franken verſetzt. Sandſtein und ſekundärer Kalkſtein können keine groteskeren Formen annehmen. An der Mündung des Vichada ſind die Granitfelſen, und was noch weit auffallender iſt, der Boden ſelbſt mit Moſen und Flechten bedeckt. Letztere haben den Habitus von Cladonia pyxidata und Lichen ran- giferinus, die im nördlichen Europa ſo häufig vorkommen.
1Rochen, wegen der angeblichen Aehnlichkeit mit dem Fiſch dieſes Namens, bei dem der Mund am Körper herabgerückt ſcheint.
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Irinida und dem Chamochiquini abgezogen war. Die In-
dianer verſicherten uns, in den Wäldern am Sipapo wachſe
in Menge der Vehuco de Maimure. Dieſes Schling-
gewächs iſt den Indianern ſehr wichtig, weil ſie Körbe und
Matten daraus verfertigen. Die Wälder am Sipapo ſind
völlig unbekannt, und die Miſſionäre verſetzen hierher das Volk
der Rayas, 1 „die den Mund am Nabel haben“. Ein alter
Indianer, den wir in Carichana antrafen und der ſich rühmte
oft Menſchenfleiſch gegeſſen zu haben, hatte dieſe kopfloſen
Menſchen „mit eigenen Augen“ geſehen. Dieſe abgeſchmackten
Märchen haben ſich auch in den Llanos verbreitet, und dort
iſt es nicht immer geraten, die Exiſtenz der Rayas-Indianer
in Zweifel zu ziehen. In allen Himmelsſtrichen iſt Unduld-
ſamkeit die Gefährtin der Leichtgläubigkeit, und man könnte
meinen, die Hirngeſpinnſte der alten Erdbeſchreiber ſeien aus
der einen Halbkugel in die andere gewandert, wenn man nicht
wüßte, daß die ſeltſamſten Ausgeburten der Phantaſie, gerade
wie die Naturbildungen, überall in Ausſehen und Geſtaltung
eine gewiſſe Aehnlichkeit zeigen.
Bei der Mündung des Rio Vichada oder Viſata ſtiegen
wir aus, um die Pflanzen des Landſtriches zu unterſuchen.
Die Gegend iſt höchſt merkwürdig; der Wald iſt nicht ſehr
dicht und eine Unzahl kleiner Felſen ſteht frei auf der Ebene.
Es ſind prismatiſche Steinmaſſen und ſie ſehen wie verfallene
Pfeiler, wie einzeln ſtehende 5 bis 7 m hohe Türmchen aus.
Die einen ſind von den Bäumen des Waldes beſchattet, bei
anderen iſt der Gipfel von Palmen gekrönt. Die Felſen ſind
Granit, der in Gneis übergeht. Befände man ſich hier nicht
im Bereich des Urgebirges, man glaubte ſich in den Felſen
von Adersbach in Böhmen oder von Streitberg und Fantaſie
in Franken verſetzt. Sandſtein und ſekundärer Kalkſtein können
keine groteskeren Formen annehmen. An der Mündung des
Vichada ſind die Granitfelſen, und was noch weit auffallender
iſt, der Boden ſelbſt mit Moſen und Flechten bedeckt. Letztere
haben den Habitus von Cladonia pyxidata und Lichen ran-
giferinus, die im nördlichen Europa ſo häufig vorkommen.
1 Rochen, wegen der angeblichen Aehnlichkeit mit dem Fiſch
dieſes Namens, bei dem der Mund am Körper herabgerückt ſcheint.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/195>, abgerufen am 20.07.2024.
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