Zeit vor der Entdeckung der Neuen Welt genau, dringt man in die Wälder am Orinoko, sieht man, wie unbedeutend, wie vereinzelt die europäischen Niederlassungen sind, und in welchen Zuständen die unabhängig gebliebenen Stämme verharren, so kann man nicht daran denken, die eben besprochene Ueberein- stimmung dem Einfluß der Missionäre und des Christentums auf die Volkssagen zuzuschreiben. Ebenso unwahrscheinlich ist es, daß die Völker am Orinoko durch den Umstand, daß sie Meeresprodukte hoch oben in den Gebirgen gefunden, auf die Vorstellung vom großen Wasser gekommen sein sollten, das eine Zeitlang die Keime des organischen Lebens auf der Erde vernichtet habe. Das Land am rechten Ufer des Orinoko bis zum Cassiquiare und Rio Negro besteht aus Urgebirge. Ich habe dort wohl eine kleine Sandstein- oder Konglomeratfor- mation angetroffen, aber keinen sekundären Kalkstein, keine Spur von Versteinerungen.
Der frische Nordostwind brachte uns mit vollen Segeln zur Boca de la Tortuga. Gegen 11 Uhr vormittags stiegen wir an einer Insel mitten im Strome aus, welche die Indianer in der Mission Uruana als ihr Eigentum be- trachten. Diese Insel ist berühmt wegen des Schildkröten- fanges, oder, wie man hier sagt, wegen der Cosecha, der Eierernte, die jährlich hier gehalten wird. Wir fanden hier viele Indianer beisammen und unter Hütten aus Palmblättern gelagert. Das Lager war über 300 Köpfe stark. Seit San Fernando am Apure waren wir nur an öde Gestade ge- wöhnt, und so fiel uns das Leben, das hier herrschte, unge- mein auf. Außer den Guamos und Otomaken aus Uruana, die beide für wilde, unzähmbare Stämme gelten, waren Ka- riben und andere Indianer vom unteren Orinoko da. Jeder Stamm lagerte für sich und unterschied sich durch die Farbe, mit der die Haut bemalt war. Wir fanden in diesem lär- menden Haufen einige Weiße, namentlich "Pulperos" oder Krämer aus Angostura, die den Fluß heraufgekommen waren, um von den Eingeborenen Schildkröteneieröl zu kaufen. Wir trafen auch den Missionär von Uruana, der aus Alcala de Henarez gebürtig war. Der Mann verwunderte sich nicht wenig, uns hier zu finden. Nachdem er unsere Instrumente bewundert, entwarf er uns eine übertriebene Schilderung von den Beschwerden, denen wir uns notwendig aussetzten, wenn wir auf dem Orinoko bis über die Fälle hinaufgingen. Der Zweck unserer Reise schien ihm in bedeutendes Dunkel
Zeit vor der Entdeckung der Neuen Welt genau, dringt man in die Wälder am Orinoko, ſieht man, wie unbedeutend, wie vereinzelt die europäiſchen Niederlaſſungen ſind, und in welchen Zuſtänden die unabhängig gebliebenen Stämme verharren, ſo kann man nicht daran denken, die eben beſprochene Ueberein- ſtimmung dem Einfluß der Miſſionäre und des Chriſtentums auf die Volksſagen zuzuſchreiben. Ebenſo unwahrſcheinlich iſt es, daß die Völker am Orinoko durch den Umſtand, daß ſie Meeresprodukte hoch oben in den Gebirgen gefunden, auf die Vorſtellung vom großen Waſſer gekommen ſein ſollten, das eine Zeitlang die Keime des organiſchen Lebens auf der Erde vernichtet habe. Das Land am rechten Ufer des Orinoko bis zum Caſſiquiare und Rio Negro beſteht aus Urgebirge. Ich habe dort wohl eine kleine Sandſtein- oder Konglomeratfor- mation angetroffen, aber keinen ſekundären Kalkſtein, keine Spur von Verſteinerungen.
Der friſche Nordoſtwind brachte uns mit vollen Segeln zur Boca de la Tortuga. Gegen 11 Uhr vormittags ſtiegen wir an einer Inſel mitten im Strome aus, welche die Indianer in der Miſſion Uruana als ihr Eigentum be- trachten. Dieſe Inſel iſt berühmt wegen des Schildkröten- fanges, oder, wie man hier ſagt, wegen der Coſecha, der Eierernte, die jährlich hier gehalten wird. Wir fanden hier viele Indianer beiſammen und unter Hütten aus Palmblättern gelagert. Das Lager war über 300 Köpfe ſtark. Seit San Fernando am Apure waren wir nur an öde Geſtade ge- wöhnt, und ſo fiel uns das Leben, das hier herrſchte, unge- mein auf. Außer den Guamos und Otomaken aus Uruana, die beide für wilde, unzähmbare Stämme gelten, waren Ka- riben und andere Indianer vom unteren Orinoko da. Jeder Stamm lagerte für ſich und unterſchied ſich durch die Farbe, mit der die Haut bemalt war. Wir fanden in dieſem lär- menden Haufen einige Weiße, namentlich „Pulperos“ oder Krämer aus Angoſtura, die den Fluß heraufgekommen waren, um von den Eingeborenen Schildkröteneieröl zu kaufen. Wir trafen auch den Miſſionär von Uruana, der aus Alcala de Henarez gebürtig war. Der Mann verwunderte ſich nicht wenig, uns hier zu finden. Nachdem er unſere Inſtrumente bewundert, entwarf er uns eine übertriebene Schilderung von den Beſchwerden, denen wir uns notwendig ausſetzten, wenn wir auf dem Orinoko bis über die Fälle hinaufgingen. Der Zweck unſerer Reiſe ſchien ihm in bedeutendes Dunkel
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Zeit vor der Entdeckung der Neuen Welt genau, dringt man
in die Wälder am Orinoko, ſieht man, wie unbedeutend, wie
vereinzelt die europäiſchen Niederlaſſungen ſind, und in welchen
Zuſtänden die unabhängig gebliebenen Stämme verharren, ſo
kann man nicht daran denken, die eben beſprochene Ueberein-
ſtimmung dem Einfluß der Miſſionäre und des Chriſtentums auf
die Volksſagen zuzuſchreiben. Ebenſo unwahrſcheinlich iſt es,
daß die Völker am Orinoko durch den Umſtand, daß ſie
Meeresprodukte hoch oben in den Gebirgen gefunden, auf die
Vorſtellung vom großen Waſſer gekommen ſein ſollten, das
eine Zeitlang die Keime des organiſchen Lebens auf der Erde
vernichtet habe. Das Land am rechten Ufer des Orinoko bis
zum Caſſiquiare und Rio Negro beſteht aus Urgebirge. Ich
habe dort wohl eine kleine Sandſtein- oder Konglomeratfor-
mation angetroffen, aber keinen ſekundären Kalkſtein, keine
Spur von Verſteinerungen.
Der friſche Nordoſtwind brachte uns mit vollen Segeln
zur Boca de la Tortuga. Gegen 11 Uhr vormittags
ſtiegen wir an einer Inſel mitten im Strome aus, welche
die Indianer in der Miſſion Uruana als ihr Eigentum be-
trachten. Dieſe Inſel iſt berühmt wegen des Schildkröten-
fanges, oder, wie man hier ſagt, wegen der Coſecha, der
Eierernte, die jährlich hier gehalten wird. Wir fanden hier
viele Indianer beiſammen und unter Hütten aus Palmblättern
gelagert. Das Lager war über 300 Köpfe ſtark. Seit San
Fernando am Apure waren wir nur an öde Geſtade ge-
wöhnt, und ſo fiel uns das Leben, das hier herrſchte, unge-
mein auf. Außer den Guamos und Otomaken aus Uruana,
die beide für wilde, unzähmbare Stämme gelten, waren Ka-
riben und andere Indianer vom unteren Orinoko da. Jeder
Stamm lagerte für ſich und unterſchied ſich durch die Farbe,
mit der die Haut bemalt war. Wir fanden in dieſem lär-
menden Haufen einige Weiße, namentlich „Pulperos“ oder
Krämer aus Angoſtura, die den Fluß heraufgekommen waren,
um von den Eingeborenen Schildkröteneieröl zu kaufen. Wir
trafen auch den Miſſionär von Uruana, der aus Alcala de
Henarez gebürtig war. Der Mann verwunderte ſich nicht
wenig, uns hier zu finden. Nachdem er unſere Inſtrumente
bewundert, entwarf er uns eine übertriebene Schilderung
von den Beſchwerden, denen wir uns notwendig ausſetzten,
wenn wir auf dem Orinoko bis über die Fälle hinaufgingen.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/56>, abgerufen am 16.02.2025.
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