Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.Am 24. Mai. Wir brachen von unserem Nachtlager Die Ueberreste einer alten Kultur fallen um so mehr Am 24. Mai. Wir brachen von unſerem Nachtlager Die Ueberreſte einer alten Kultur fallen um ſo mehr <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0106" n="98"/> <p>Am 24. Mai. Wir brachen von unſerem Nachtlager<lb/> vor Sonnenaufgang auf. In einer Felsbucht, wo die Duri-<lb/> mundi-Indianer gehauſt hatten, war der aromatiſche Duft<lb/> der Gewächſe ſo ſtark, daß es uns läſtig fiel, obgleich wir<lb/> unter freiem Himmel lagen und bei unſerer Gewöhnung an<lb/> ein Leben voll Beſchwerden unſer Nervenſyſten eben nicht<lb/> ſehr reizbar war. Wir konnten nicht ermitteln, was für<lb/> Blüten es waren, die dieſen Geruch verbreiteten; der Wald<lb/> war undurchdringlich. Bonpland glaubte, in den benachbarten<lb/> Sümpfen werden große Büſche von Pancratium und einigen<lb/> anderen Liliengewächſen ſtecken. Wir kamen ſofort den Ori-<lb/> noko abwärts zuerſt am Einfluß des Cunucunumo, dann am<lb/> Guanami und Puruname vorüber. Beide Ufer des Haupt-<lb/> ſtroms ſind völlig unbewohnt; gegen Norden erheben ſich<lb/> hohe Gebirge, gegen Süden dehnt ſich, ſo weit das Auge reicht,<lb/> eine Ebene bis über die Quellen des Atacavi hinaus, der<lb/> weiter unten Atabapo heißt. Der Anblick eines Fluſſes, auf<lb/> dem man nicht einmal einem Fiſcherboot begegnet, hat etwas<lb/> Trauriges, Niederſchlagendes. Unabhängige Völkerſchaften,<lb/> die Abirianos und Maquiritares, leben hier im Gebirgsland,<lb/> aber auf den Grasfluren zwiſchen Caſſiquiare, Atabapo, Ori-<lb/> noko und Rio Negro findet man gegenwärtig faſt keine Spur<lb/> einer menſchlichen Wohnung. Ich ſage gegenwärtig; denn<lb/> hier, wie anderswo in Guyana, findet man auf den härteſten<lb/> Granitfelſen rohe Bilder eingegraben, welche Sonne, Mond<lb/> und verſchiedene Tiere vorſtellen und darauf hinweiſen, daß<lb/> hier früher ein ganz anderes Volk lebte, als das wir an den<lb/> Ufern des Orinoko kennen gelernt. Nach den Ausſagen der<lb/> Indianer und der verſtändigſten Miſſionare kommen dieſe<lb/> ſymboliſchen Bilder ganz mit denen überein, die wir 450 <hi rendition="#aq">km</hi><lb/> weiter nördlich von Caycara, der Einmündung des Apure<lb/> gegenüber, geſehen haben.</p><lb/> <p>Die Ueberreſte einer alten Kultur fallen um ſo mehr<lb/> auf, je größer der Flächenraum iſt, auf dem ſie vorkommen,<lb/> und je ſchärfer ſie von der Verwilderung abſtechen, in die<lb/> wir ſeit der Eroberung alle Horden in den heißen öſtlichen<lb/> Landſtrichen Amerikas verſunken ſehen. 630 <hi rendition="#aq">km</hi> oſtwärts<lb/> von den Ebenen am Caſſiquiare und Conorichite, zwiſchen<lb/> den Quellen des Rio Branco und des Rio Eſſequibo, findet<lb/> man gleichfalls Felſen mit ſymboliſchen Bildern. Ich ent-<lb/> nehme dieſen Umſtand, der mir ſehr merkwürdig ſcheint, dem<lb/> Tagebuch des Reiſenden Hortsmann, das mir in einer Ab-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [98/0106]
Am 24. Mai. Wir brachen von unſerem Nachtlager
vor Sonnenaufgang auf. In einer Felsbucht, wo die Duri-
mundi-Indianer gehauſt hatten, war der aromatiſche Duft
der Gewächſe ſo ſtark, daß es uns läſtig fiel, obgleich wir
unter freiem Himmel lagen und bei unſerer Gewöhnung an
ein Leben voll Beſchwerden unſer Nervenſyſten eben nicht
ſehr reizbar war. Wir konnten nicht ermitteln, was für
Blüten es waren, die dieſen Geruch verbreiteten; der Wald
war undurchdringlich. Bonpland glaubte, in den benachbarten
Sümpfen werden große Büſche von Pancratium und einigen
anderen Liliengewächſen ſtecken. Wir kamen ſofort den Ori-
noko abwärts zuerſt am Einfluß des Cunucunumo, dann am
Guanami und Puruname vorüber. Beide Ufer des Haupt-
ſtroms ſind völlig unbewohnt; gegen Norden erheben ſich
hohe Gebirge, gegen Süden dehnt ſich, ſo weit das Auge reicht,
eine Ebene bis über die Quellen des Atacavi hinaus, der
weiter unten Atabapo heißt. Der Anblick eines Fluſſes, auf
dem man nicht einmal einem Fiſcherboot begegnet, hat etwas
Trauriges, Niederſchlagendes. Unabhängige Völkerſchaften,
die Abirianos und Maquiritares, leben hier im Gebirgsland,
aber auf den Grasfluren zwiſchen Caſſiquiare, Atabapo, Ori-
noko und Rio Negro findet man gegenwärtig faſt keine Spur
einer menſchlichen Wohnung. Ich ſage gegenwärtig; denn
hier, wie anderswo in Guyana, findet man auf den härteſten
Granitfelſen rohe Bilder eingegraben, welche Sonne, Mond
und verſchiedene Tiere vorſtellen und darauf hinweiſen, daß
hier früher ein ganz anderes Volk lebte, als das wir an den
Ufern des Orinoko kennen gelernt. Nach den Ausſagen der
Indianer und der verſtändigſten Miſſionare kommen dieſe
ſymboliſchen Bilder ganz mit denen überein, die wir 450 km
weiter nördlich von Caycara, der Einmündung des Apure
gegenüber, geſehen haben.
Die Ueberreſte einer alten Kultur fallen um ſo mehr
auf, je größer der Flächenraum iſt, auf dem ſie vorkommen,
und je ſchärfer ſie von der Verwilderung abſtechen, in die
wir ſeit der Eroberung alle Horden in den heißen öſtlichen
Landſtrichen Amerikas verſunken ſehen. 630 km oſtwärts
von den Ebenen am Caſſiquiare und Conorichite, zwiſchen
den Quellen des Rio Branco und des Rio Eſſequibo, findet
man gleichfalls Felſen mit ſymboliſchen Bildern. Ich ent-
nehme dieſen Umſtand, der mir ſehr merkwürdig ſcheint, dem
Tagebuch des Reiſenden Hortsmann, das mir in einer Ab-
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