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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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schrift von der Hand des berühmten d'Anville vorliegt. Dieser
Reisende, dessen ich in diesem Buche schon mehreremal ge-
dacht, fuhr den Rupunuvini, einen Nebenfluß des Essequibo,
herauf. Da wo der Fluß eine Menge kleiner Fälle bildet
und sich zwischen den Bergen von Maracana durchschlängelt,
fand er, 1 bevor er an den See Amucu kam, "Felsen, bedeckt
mit Figuren oder (wie er sich portugiesisch ausdrückt) varias
letras
". Dieses Wort Buchstaben haben wir nicht in
seinem eigentlichen Sinn zu nehmen. Man hat auch uns am
Felsen Culimacari am Ufer des Cassiquiare und im Hafen
von Caycara am unteren Orinoko Striche gezeigt, die man
für aneinander gereihte Buchstaben hält. Es waren aber nur
unförmliche Figuren, welche die Himmelskörper, Tiger, Kroko-
dile, Boa und Werkzeuge zur Bereitung des Maniokmehls
vorstellen sollen. An den gemalten Felsen (so nennen
die Indianer diese mit Figuren bedeckten Steine) ist durchaus
keine symmetrische Anordnung, keine regelmäßige Abteilung
in Schriftzeichen zu bemerken. Die Striche, die der Missionär
Fray Ramon Bueno in den Bergen von Uruana entdeckt hat,
nähern sich allerdings einer Buchstabenschrift mehr, indessen
ist man über diese Züge, von denen ich anderswo gehandelt,
noch sehr im unklaren.

Was auch diese Figuren bedeuten sollen und zu welchem
Zweck sie in den Granit gegraben werden, immer verdienen
sie von seiten des Geschichtsphilosophen die größte Beachtung.
Reist man von der Küste von Caracas dem Aequator zu,
so kommt man zuerst zur Ansicht, diese Denkmale seien der
Bergkette der Encamarada eigentümlich; man findet sie beim
Hafen von Sedenno bei Caycara, bei San Rafael del Capu-
chino, Cabruta gegenüber, fast überall, wo in der Savanne
zwischen dem Cerro Curiquima und dem Ufer des Caura das
Granitgestein zu Tage kommt. Die Völker von tamanaki-
schem Stamme, die alten Bewohner dieses Landes, haben eine
lokale Mythologie, Sagen, die sich auf diese Felsen mit Bildern
beziehen. Amalivaca, der Vater der Tamanaken, das

1 Am 18. April 1749. Nikolaus Hortsmann schrieb Tag für
Tag an Ort und Stelle auf, was ihm Bemerkenswertes vorgekommen.
Er verdient um so mehr Zutrauen, da er, höchst mißvergnügt, daß
er nicht gefunden, was er gesucht (den See Dorado und Gold- und
Diamantengruben), auf alles, was ihm unterwegs vorkommt, mit
Geringschätzung zu blicken scheint.

ſchrift von der Hand des berühmten d’Anville vorliegt. Dieſer
Reiſende, deſſen ich in dieſem Buche ſchon mehreremal ge-
dacht, fuhr den Rupunuvini, einen Nebenfluß des Eſſequibo,
herauf. Da wo der Fluß eine Menge kleiner Fälle bildet
und ſich zwiſchen den Bergen von Maracana durchſchlängelt,
fand er, 1 bevor er an den See Amucu kam, „Felſen, bedeckt
mit Figuren oder (wie er ſich portugieſiſch ausdrückt) varias
letras
“. Dieſes Wort Buchſtaben haben wir nicht in
ſeinem eigentlichen Sinn zu nehmen. Man hat auch uns am
Felſen Culimacari am Ufer des Caſſiquiare und im Hafen
von Caycara am unteren Orinoko Striche gezeigt, die man
für aneinander gereihte Buchſtaben hält. Es waren aber nur
unförmliche Figuren, welche die Himmelskörper, Tiger, Kroko-
dile, Boa und Werkzeuge zur Bereitung des Maniokmehls
vorſtellen ſollen. An den gemalten Felſen (ſo nennen
die Indianer dieſe mit Figuren bedeckten Steine) iſt durchaus
keine ſymmetriſche Anordnung, keine regelmäßige Abteilung
in Schriftzeichen zu bemerken. Die Striche, die der Miſſionär
Fray Ramon Bueno in den Bergen von Uruana entdeckt hat,
nähern ſich allerdings einer Buchſtabenſchrift mehr, indeſſen
iſt man über dieſe Züge, von denen ich anderswo gehandelt,
noch ſehr im unklaren.

Was auch dieſe Figuren bedeuten ſollen und zu welchem
Zweck ſie in den Granit gegraben werden, immer verdienen
ſie von ſeiten des Geſchichtsphiloſophen die größte Beachtung.
Reiſt man von der Küſte von Caracas dem Aequator zu,
ſo kommt man zuerſt zur Anſicht, dieſe Denkmale ſeien der
Bergkette der Encamarada eigentümlich; man findet ſie beim
Hafen von Sedeño bei Caycara, bei San Rafael del Capu-
chino, Cabruta gegenüber, faſt überall, wo in der Savanne
zwiſchen dem Cerro Curiquima und dem Ufer des Caura das
Granitgeſtein zu Tage kommt. Die Völker von tamanaki-
ſchem Stamme, die alten Bewohner dieſes Landes, haben eine
lokale Mythologie, Sagen, die ſich auf dieſe Felſen mit Bildern
beziehen. Amalivaca, der Vater der Tamanaken, das

1 Am 18. April 1749. Nikolaus Hortsmann ſchrieb Tag für
Tag an Ort und Stelle auf, was ihm Bemerkenswertes vorgekommen.
Er verdient um ſo mehr Zutrauen, da er, höchſt mißvergnügt, daß
er nicht gefunden, was er geſucht (den See Dorado und Gold- und
Diamantengruben), auf alles, was ihm unterwegs vorkommt, mit
Geringſchätzung zu blicken ſcheint.
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[99/0107] ſchrift von der Hand des berühmten d’Anville vorliegt. Dieſer Reiſende, deſſen ich in dieſem Buche ſchon mehreremal ge- dacht, fuhr den Rupunuvini, einen Nebenfluß des Eſſequibo, herauf. Da wo der Fluß eine Menge kleiner Fälle bildet und ſich zwiſchen den Bergen von Maracana durchſchlängelt, fand er, 1 bevor er an den See Amucu kam, „Felſen, bedeckt mit Figuren oder (wie er ſich portugieſiſch ausdrückt) varias letras“. Dieſes Wort Buchſtaben haben wir nicht in ſeinem eigentlichen Sinn zu nehmen. Man hat auch uns am Felſen Culimacari am Ufer des Caſſiquiare und im Hafen von Caycara am unteren Orinoko Striche gezeigt, die man für aneinander gereihte Buchſtaben hält. Es waren aber nur unförmliche Figuren, welche die Himmelskörper, Tiger, Kroko- dile, Boa und Werkzeuge zur Bereitung des Maniokmehls vorſtellen ſollen. An den gemalten Felſen (ſo nennen die Indianer dieſe mit Figuren bedeckten Steine) iſt durchaus keine ſymmetriſche Anordnung, keine regelmäßige Abteilung in Schriftzeichen zu bemerken. Die Striche, die der Miſſionär Fray Ramon Bueno in den Bergen von Uruana entdeckt hat, nähern ſich allerdings einer Buchſtabenſchrift mehr, indeſſen iſt man über dieſe Züge, von denen ich anderswo gehandelt, noch ſehr im unklaren. Was auch dieſe Figuren bedeuten ſollen und zu welchem Zweck ſie in den Granit gegraben werden, immer verdienen ſie von ſeiten des Geſchichtsphiloſophen die größte Beachtung. Reiſt man von der Küſte von Caracas dem Aequator zu, ſo kommt man zuerſt zur Anſicht, dieſe Denkmale ſeien der Bergkette der Encamarada eigentümlich; man findet ſie beim Hafen von Sedeño bei Caycara, bei San Rafael del Capu- chino, Cabruta gegenüber, faſt überall, wo in der Savanne zwiſchen dem Cerro Curiquima und dem Ufer des Caura das Granitgeſtein zu Tage kommt. Die Völker von tamanaki- ſchem Stamme, die alten Bewohner dieſes Landes, haben eine lokale Mythologie, Sagen, die ſich auf dieſe Felſen mit Bildern beziehen. Amalivaca, der Vater der Tamanaken, das 1 Am 18. April 1749. Nikolaus Hortsmann ſchrieb Tag für Tag an Ort und Stelle auf, was ihm Bemerkenswertes vorgekommen. Er verdient um ſo mehr Zutrauen, da er, höchſt mißvergnügt, daß er nicht gefunden, was er geſucht (den See Dorado und Gold- und Diamantengruben), auf alles, was ihm unterwegs vorkommt, mit Geringſchätzung zu blicken ſcheint.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/107>, abgerufen am 24.11.2024.