an den Mäuseturm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert. Hier wie an den Ufern des Atabapo fiel uns eine kleine Art Drosera auf, die ganz den Habitus der europäischen Drosera hat. Der Orinoko war in der Nacht beträchtlich gestiegen, und die bedeutend beschleunigte Strömung trug uns in zehn Stunden von der Mündung des Mataveni zum oberen großen Katarakt, dem von Maypures oder Quituna; der zurückge- legte Weg betrug 58,5 km. Mit Interesse erinnerten wir uns der Orte, wo wir stromaufwärts übernachtet; wir trafen Indianer wieder, die uns beim Botanisieren begleitet, und wir besuchten nochmals die schöne Quelle, die hinter dem Hause des Missionärs aus einem geschichteten Granitfelsen kommt; ihre Temperatur hatte sich nicht um 0,3° verändert. Von der Mündung des Atabapo bis zu der des Apure war uns, als reisten wir in einem Lande, in dem wir lange ge- wohnt. Wir lebten ebenso schmal, wir wurden von denselben Mücken gestochen, aber die gewisse Aussicht, daß in wenigen Wochen unsere physischen Leiden ein Ende hätten, hielt uns aufrecht.
Der Transport der Piroge über den großen Katarakt hielt uns in Maypures zwei Tage auf. Pater Bernardo Zea, der Missionär bei den Raudales, der uns an den Rio Negro begleitet hatte, wollte, obgleich leidend, uns mit seinen Indianern vollends nach Atures führen. Einer derselben, Zerepe, der Dolmetscher, den man auf dem Strande von Pararuma so unbarmherzig geprügelt, fiel uns durch seine tiefe Niedergeschlagenheit auf. Wir hörten, er habe die In- dianerin verloren, mit der er verlobt gewesen, und zwar infolge einer falschen Nachricht, die über die Richtung unserer Reise in Umlauf gekommen. Zerepe war in Maypures geboren, aber bei seinen Eltern vom Stamme der Macos im Walde erzogen. Er hatte in die Mission ein zwölfjähriges Mädchen mitgebracht, das er nach unserer Rückkehr zu den Katarakten zum Weibe nehmen wollte. Das Leben in den Missionen behagte der jungen Indianerin schlecht, denn man hatte ihr gesagt, die Weißen gehen ins Land der Portugiesen (nach Brasilien) und nehmen Zerepe mit. Da es ihr nicht ging, wie sie gehofft, bemächtigte sie sich eines Kanoe, fuhr mit einem anderen Mädchen vom selben Alter durch den Raudal und lief al monte zu den Ihrigen. Dieser kecke Streich war die Tagesneuigkeit; Zerepes Niedergeschlagenheit hielt übrigens nicht lange an. Er war unter Christen geboren,
an den Mäuſeturm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert. Hier wie an den Ufern des Atabapo fiel uns eine kleine Art Droſera auf, die ganz den Habitus der europäiſchen Droſera hat. Der Orinoko war in der Nacht beträchtlich geſtiegen, und die bedeutend beſchleunigte Strömung trug uns in zehn Stunden von der Mündung des Mataveni zum oberen großen Katarakt, dem von Maypures oder Quituna; der zurückge- legte Weg betrug 58,5 km. Mit Intereſſe erinnerten wir uns der Orte, wo wir ſtromaufwärts übernachtet; wir trafen Indianer wieder, die uns beim Botaniſieren begleitet, und wir beſuchten nochmals die ſchöne Quelle, die hinter dem Hauſe des Miſſionärs aus einem geſchichteten Granitfelſen kommt; ihre Temperatur hatte ſich nicht um 0,3° verändert. Von der Mündung des Atabapo bis zu der des Apure war uns, als reiſten wir in einem Lande, in dem wir lange ge- wohnt. Wir lebten ebenſo ſchmal, wir wurden von denſelben Mücken geſtochen, aber die gewiſſe Ausſicht, daß in wenigen Wochen unſere phyſiſchen Leiden ein Ende hätten, hielt uns aufrecht.
Der Transport der Piroge über den großen Katarakt hielt uns in Maypures zwei Tage auf. Pater Bernardo Zea, der Miſſionär bei den Raudales, der uns an den Rio Negro begleitet hatte, wollte, obgleich leidend, uns mit ſeinen Indianern vollends nach Atures führen. Einer derſelben, Zerepe, der Dolmetſcher, den man auf dem Strande von Pararuma ſo unbarmherzig geprügelt, fiel uns durch ſeine tiefe Niedergeſchlagenheit auf. Wir hörten, er habe die In- dianerin verloren, mit der er verlobt geweſen, und zwar infolge einer falſchen Nachricht, die über die Richtung unſerer Reiſe in Umlauf gekommen. Zerepe war in Maypures geboren, aber bei ſeinen Eltern vom Stamme der Macos im Walde erzogen. Er hatte in die Miſſion ein zwölfjähriges Mädchen mitgebracht, das er nach unſerer Rückkehr zu den Katarakten zum Weibe nehmen wollte. Das Leben in den Miſſionen behagte der jungen Indianerin ſchlecht, denn man hatte ihr geſagt, die Weißen gehen ins Land der Portugieſen (nach Braſilien) und nehmen Zerepe mit. Da es ihr nicht ging, wie ſie gehofft, bemächtigte ſie ſich eines Kanoe, fuhr mit einem anderen Mädchen vom ſelben Alter durch den Raudal und lief al monte zu den Ihrigen. Dieſer kecke Streich war die Tagesneuigkeit; Zerepes Niedergeſchlagenheit hielt übrigens nicht lange an. Er war unter Chriſten geboren,
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an den Mäuſeturm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert.
Hier wie an den Ufern des Atabapo fiel uns eine kleine Art
Droſera auf, die ganz den Habitus der europäiſchen Droſera
hat. Der Orinoko war in der Nacht beträchtlich geſtiegen,
und die bedeutend beſchleunigte Strömung trug uns in zehn
Stunden von der Mündung des Mataveni zum oberen großen
Katarakt, dem von Maypures oder Quituna; der zurückge-
legte Weg betrug 58,5 km. Mit Intereſſe erinnerten wir
uns der Orte, wo wir ſtromaufwärts übernachtet; wir trafen
Indianer wieder, die uns beim Botaniſieren begleitet, und
wir beſuchten nochmals die ſchöne Quelle, die hinter dem
Hauſe des Miſſionärs aus einem geſchichteten Granitfelſen
kommt; ihre Temperatur hatte ſich nicht um 0,3° verändert.
Von der Mündung des Atabapo bis zu der des Apure war
uns, als reiſten wir in einem Lande, in dem wir lange ge-
wohnt. Wir lebten ebenſo ſchmal, wir wurden von denſelben
Mücken geſtochen, aber die gewiſſe Ausſicht, daß in wenigen
Wochen unſere phyſiſchen Leiden ein Ende hätten, hielt uns
aufrecht.
Der Transport der Piroge über den großen Katarakt
hielt uns in Maypures zwei Tage auf. Pater Bernardo
Zea, der Miſſionär bei den Raudales, der uns an den Rio
Negro begleitet hatte, wollte, obgleich leidend, uns mit ſeinen
Indianern vollends nach Atures führen. Einer derſelben,
Zerepe, der Dolmetſcher, den man auf dem Strande von
Pararuma ſo unbarmherzig geprügelt, fiel uns durch ſeine
tiefe Niedergeſchlagenheit auf. Wir hörten, er habe die In-
dianerin verloren, mit der er verlobt geweſen, und zwar infolge
einer falſchen Nachricht, die über die Richtung unſerer Reiſe
in Umlauf gekommen. Zerepe war in Maypures geboren,
aber bei ſeinen Eltern vom Stamme der Macos im Walde
erzogen. Er hatte in die Miſſion ein zwölfjähriges Mädchen
mitgebracht, das er nach unſerer Rückkehr zu den Katarakten
zum Weibe nehmen wollte. Das Leben in den Miſſionen
behagte der jungen Indianerin ſchlecht, denn man hatte ihr
geſagt, die Weißen gehen ins Land der Portugieſen (nach
Braſilien) und nehmen Zerepe mit. Da es ihr nicht ging,
wie ſie gehofft, bemächtigte ſie ſich eines Kanoe, fuhr mit
einem anderen Mädchen vom ſelben Alter durch den Raudal
und lief al monte zu den Ihrigen. Dieſer kecke Streich
war die Tagesneuigkeit; Zerepes Niedergeſchlagenheit hielt
übrigens nicht lange an. Er war unter Chriſten geboren,
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/117>, abgerufen am 16.02.2025.
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